Inferno
blickte voller Misstrauen zu dem Professor an der versperrten Glastür.
Sienna winkte ihm freundlich zu, doch der Mann funkelte sie nur kalt an, bevor er wieder ging.
Il Studiolo.
Hinter der Glastür, exakt gegenüber der versteckten Botschaft cerca trova im Saal der Fünfhundert, befand sich eine fensterlose Kammer. Erschaffen von Vasari als geheimes Studio für Francesco I. besaß Il Studiolo eine hohe Gewölbedecke, die einem das Gefühl vermittelte, sich in einer riesigen Schatztruhe aufzuhalten.
Passend dazu prangten im Innenraum Dutzende von wunderschönen Objekten. An den Wänden und der Decke hingen mehr als dreißig Gemälde so dicht nebeneinander, dass kaum ein freier Fleck zu sehen war. Der Sturz des Ikarus … Eine Allegorie auf das Leben …
Als Langdon durch die Scheibe in den atemberaubenden Raum dahinter spähte, kam ihm ein Gedanke. »Die Augen des Todes!«, flüsterte er.
Vor einigen Jahren war er im Zuge einer privaten Führung durch die atemberaubende Zahl von geheimen Passagen, Korridoren und Nischen des Palazzo Vecchio zum ersten Mal in Il Studiolo gewesen. Selbst hier gab es mehrere hinter Gemälden verborgene Nischen.
Doch es waren nicht die geheimen Verstecke, die Langdons Interesse geweckt hatten. Stattdessen war ihm ein kostbares Stück moderner Kunst in den Sinn gekommen, das in Vasaris berühmtem Il Studiolo gezeigt worden war: For the Love of God – Um Himmels willen , eine kontroverse Skulptur des bekannten zeitgenössichen Künstlers Damien Hirst. Das Objekt hatte damals einen Aufschrei in der Kunstszene verursacht.
Es handelte sich um den lebensgroßen Abguss eines menschlichen Schädels, erschaffen aus massivem Platin und besetzt mit mehr als achttausend glitzernden pavé-gefassten Diamanten. Der Effekt war atemberaubend. Die leeren Augenhöhlen des Schädels glitzerten voller Licht und Leben, eine bestürzende Kombination gegensätzlicher Symbole: Leben und Tod, Schönheit und Entsetzen. Auch wenn Hirsts Diamantenschädel längst nicht mehr in Il Studiolo ausgestellt war, hatte die Erinnerung Langdon auf eine Idee gebracht.
Die Augen des Todes , dachte er. Damit könnte ein Schädel gemeint sein, keine Frage.
Schädel waren ein wiederkehrendes Thema in Dantes Inferno. Berühmt war die Szene der brutalen Bestrafung des Grafen Ugolin im tiefsten Kreis der Hölle, wo er bis in alle Ewigkeit am Schädel des gottlosen Erzbischofs Ireiggur nagen musste.
Suchen wir vielleicht nach einem Schädel?
Il Studiolo war in der Tradition eines Kuriositätenkabinetts erbaut worden. Nahezu sämtliche Bilder waren schwenkbar und gaben den Blick frei auf geheime Nischen oder Schränke, in denen der Herzog die merkwürdigsten Besitztümer aufbewahrt hatte – viele nur für ihn allein von Interesse, beispielsweise seltene Mineralien, schöne Federn, ein perfekt erhaltener, versteinerter Nautilus und angeblich sogar das mit handgehämmertem Silber überzogene Schienbein eines Mönchs.
All diese Dinge hatte man vor langer Zeit entfernt, und mit Ausnahme von Hirsts Diamantenschädel war nie ein Totenkopf in Il Studiolo ausgestellt worden.
Das laute Knallen einer Tür auf der anderen Seite des Saals riss ihn aus seinen Gedanken, und über den Marmorboden näherten sich schnelle Schritte.
»Signore!«, rief eine verärgerte Frauenstimme. »Il salone non è aperto!«
Langdon wandte sich um und sah eine kleine, zierliche Frau auf sich zukommen. Sie hatte kurzes braunes Haar und war hochschwanger. Sie klopfte demonstrativ auf ihre Armbanduhr und wiederholte immer wieder, dass der Saal noch nicht geöffnet habe. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, blieb sie wie angewurzelt stehen und schlug überrascht die Hand vor den Mund.
»Professor Langdon!«, rief sie verlegen, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. »Es tut mir so leid, Professor! Ich wusste ja nicht, dass Sie es sind! Willkommen zurück.«
Langdon erstarrte.
Er war sicher, dass er die Frau noch nie in seinem ganzen Leben gesehen hatte.
KAPITEL 37
»Ich hätte Sie fast nicht erkannt, Professor!«, sprudelte die Frau mit starkem italienischen Akzent hervor. »Wegen Ihrer Kleidung!« Sie lächelte warm und bedachte Langdons Brioni-Anzug mit einem anerkennenden Nicken. »Sehr schick, Signor. Sie sehen beinahe aus wie ein Italiener!«
Langdons Mund wurde staubtrocken, doch er lächelte die Frau höflich an. »Guten … Morgen«, stammelte er. »Wie geht es Ihnen?«
Sie lachte und hielt sich den Bauch. »Ich bin müde.
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