Infinity (German Edition)
beschwichtigend die Hände und schluckte den Rest ihres Vorschlags hinunter.
Aus dem Treppenhaus drangen schleppende Schritte zu ihnen in die Wohnung. Dann klingelte es. Mamas Stimme. Kurz darauf das Schluchzen einer anderen Frau. Klaras Blick traf sich mit Alens. Gleichzeitig standen sie auf und starrten die Zimmertür an, als wollten sie sie hypnotisieren.
Richis Mutter war zurück.
_ 15 _
Es gab keine Worte, mit denen man eine Mutter trösten konnte, die ihr Kind verloren hatte. Sie konnten nichts anderes tun, als sie nicht allein zu lassen. Und später, als Alen Richis Mutter in ihre Wohnung begleitete, fand Klara noch lange keinen Schlaf. An der Art, wie ihre Mutter sie zugedeckt und ihr einen langen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, erahnte Klara, was ihr während der vergangenen Stunden durch den Kopf gegangen sein musste.
Wir müssen herausfinden, was mit Richi passiert ist. Das sind wir ihm und vor allem seiner Mutter schuldig!
Sie brauchte ein Ziel, eine Wiedergutmachung. Sie wollte nicht länger über die Endgültigkeit des Todes nachdenken. Die Vorstellung, dass es auch sie selbst eines Tages nicht mehr geben würde, versetzte sie in panische Angst.
Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Als sie auf ihrem Kissen keine kühle Stelle mehr fand, gab sie es auf und knipste die Nachttischlampe an. Neben ihrem Bett türmten sich Bücher zu hohen, der Größe nach geordneten Stapeln. Sie las immer mehrere Bücher gleichzeitig. Je nach Stimmung.
Einen Krimi von Barbara Vine. Die neuesten Ausgaben von GEO . Eine wissenschaftliche Abhandlung über evolutionstechnische Theorien. Zwei Bücher von Kafka. Mehrere Thriller.
Ein Buch nach dem anderen nahm sie vom Stapel, blätterte darin und las sich manchmal an der einen oder anderen Stelle fest, bevor sie es doch wieder zur Seite legte. Nachdem sie beim letzten Buch angekommen war, seufzte sie und schwang die Beine über die Bettkante. Mit bloßen Füßen tappte sie zum Fenster und legte die Stirn an die kühle Scheibe. Licht fiel aus der Nebenwohnung auf die Straße. Alen konnte offenbar auch nicht schlafen. Sie warf einen Blick auf ihren Wecker. 2:43. Zum Glück war morgen ein Feiertag, sonst hätte sie schon in drei Stunden wieder aufstehen müssen.
Ziellos streifte sie durch ihr Zimmer. Mit fünf Schritten war sie am anderen Ende. Sie drückte ihr Ohr gegen die Wand. Gedämpfte Schritte drangen zu ihr herüber. Wurden lauter. Verstummten. Klara zuckte zurück, sie fühlte sich beim Lauschen ertappt, als hätte Alen sie durch die Wand sehen können. Sie stolperte rückwärts bis ihre Waden gegen die Bettkante stießen. Ihr Blick glitt wieder Richtung Fenster – zur anderen Straßenseite. Bildete sie sich das ein, oder stand dort ein Mann? Hektisch atmete sie ein. Da war doch jemand! Ein blasses Gesicht hob sich schemenhaft zwischen den dunklen Bäumen ab. Etwas blitzte, als hätte sich ein Lichtstrahl im Glas gespiegelt.
Sie presste die Lippen zusammen.
Nicht bewegen! Er schaut herauf! Diese Augen … unmöglich … die kann ich doch von hier oben gar nicht sehen! Ich träume doch nur … ja, ein Traum … alles nur ein Traum … Aufwachen, Klara! Jetzt tritt er aus dem Schatten der Bäume unter das fahle Licht der Straßenlaterne. Hebt den Kopf … und lächelt breit. Richi!
Klara fuhr mit einem Schrei hoch. Schweißnass klebte das Nachthemd an ihrem Körper. Das Buch, das auf ihrer Brust gelegen hatte, plumpste auf den Boden. Sie brauchte einen Moment, um zu merken, dass sie doch irgendwann eingeschlafen sein musste. Es war nur ein Traum … Der Mann … bestimmt hatte der nicht in echt vor ihrem Fenster gestanden.
Ob Alen noch wach war? Sie schlich zum Fenster und schob vorsichtig die Gardinen zur Seite. Der Nachtwind riss an den schon fast vollständig entlaubten Ästen. Die letzten Blätter wirbelten durch die dunkle Gasse und verfingen sich in feuchten Haufen zwischen den Mülltonnen. Da war niemand, außer vielleicht der Schatten einer Katze auf nächtlichem Streifzug.
Leise tappte sie zum Bett zurück und wickelte ihre kalten Füße fest in die Decke ein. Der Traum war so echt gewesen. Sie hatte Angst, dass er wiederkommen würde, sobald sie die Augen schloss. Sie versuchte, sich mit dem Aufsagen von Gedichten auf andere Gedanken zu bringen. Dann überlegte sie, ob es Alen Spaß machen könnte, den morgigen Nationalfeiertag mit Tausenden Wanderwilligen im Lainzer Tiergarten zu verbringen, und musste bei der Vorstellung
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