Infinity (German Edition)
fühlte sich unwissend wie nie. »Was bin ich doch für eine unwichtige kleine Nullnummer! Gegen das, was du in deinem Leben schon alles erlebt hast, komm ich mir vor wie ein frisch geschlüpftes Küken.« Der Satz war aus ihr herausgesprudelt, bevor sie darüber nachgedacht hatte, wie er sich wohl anhören würde.
Alen blinzelte, schluckte, dann zuckten seine Mundwinkel. »Das frisch geschlüpfte Küken würde ich zu gerne mal sehen! Hast du vielleicht ein Babyalbum oder so etwas? Meine Mama hat eines von der Klinik bekommen, in dem man mir auf diese beschissene, verrückte, wunderschöne Welt geholfen hat.« Ganz kurz legte sich wieder Trauer über seinen Blick. »Mein Vater hat es bestimmt weggeworfen, nachdem ich jeden Kontakt zu ihm abgebrochen habe und erst einmal zu einem Schulkollegen gezogen bin.« Doch gleich darauf richtete er sich wieder gerade in Klaras Drehstuhl auf und legte erwartungsvoll die Hände auf seine Knie. »Also, wo sind deine Babyfotos?«
Klara beeilte sich, ins Wohnzimmer zu springen. Keine Minute später stand sie wieder in der Tür. »Ich muss dich warnen: Das Betrachten der Bilder könnte bleibende Schäden verursachen! Ich bin wahrscheinlich das hässlichste Baby, das du jemals zu Gesicht bekommen hast. Nur der blinden Liebe meiner Mutter habe ich es zu verdanken, dass sie mich nicht gleich zur Adoption freigegeben hat.« Sie hielt das Album an die Brust gedrückt, als müsste sie es sich erst noch einmal überlegen, ob sie sich wirklich seinem Spott aussetzen wollte. Dann aber streckte sie es ihm entgegen und stellte sich hinter ihn, um mitschauen zu können.
So oft hatte sie es schon mit ihrer Mutter angesehen, aber diesmal kam es ihr vor, als sähe sie es mit anderen Augen.
Die dicken Pausbacken, die beinahe die zusammengekniffenen Augen verschluckten. Die schwarzen, strubbeligen Haare, die sich kaum von ihrem aktuellen Zustand unterschieden. Die weiße Knopfnase und der Schmollmund, von dem ihre Mutter behauptete, sie hätte ihn seit dem ersten Tag ihres Lebens ausschließlich zum Widerspruch geöffnet. Das alles hatte sie bestimmt schon tausendmal gesehen. Und doch bemerkte sie erst heute die schmale Hand, die sich unter ihr Wickelpolster geschoben hatte. Irritiert zog sie die Brauen zusammen. Sie war garantiert ein Einzelkind. Und ihre Mutter hatte nie etwas von kleinen Geschwistern oder anderen Verwandten erwähnt, die bei ihrer Geburt dabei gewesen wären.
»Was willst du, du bist doch total süß!«
»Das Süßholzraspeln kannst du dir sparen, ich hab selbst Augen im Kopf.« Streitlustig reckte sie das Kinn.
Aber Alen schnaufte plötzlich hörbar auf. »Das gibt’s doch gar nicht! Das fällt mir jetzt erst auf! Weißt du, dass wir im selben Spital auf die Welt gekommen sind?« Er deutete auf das unscharfe Schild, das an ihrem Kinderbett zu sehen war.
»Woher willst du das wissen?«
»Daran erinnere ich mich genau! Auf meinem Foto war auch so was an meinem Gitterbett.«
Geburtenklinik Fünfhaus entzifferte Klara mit zusammengekniffenen Augen. »Bist du sicher?« Dieselbe Schule, dieselbe Klinik – so viele Zufälle auf einmal, konnte es das wirklich geben?
Bevor sie statistische Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellte, schnalzte Alen mit der Zunge. »Und das da kippt mich jetzt endgültig aus den Schuhen.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf eine Unterschrift am unteren Ende der Seite. »Schau dir mal an, wer dein Geburtshelfer war.«
Unter der vorgedruckten Zeile Mein Arzt mit anschließender Pünktchenzeile, auf der ein paar unleserliche Krakelzeichen zu sehen waren, hatte jemand in sauberer Druckschrift »Dr. Johannes Neumeier« vermerkt.
»Das ist doch der …« In Klaras Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Der Aufsatz. Die Arbeit. Der Forscher. Richis Treffen. Die geheimnisvolle Visitenkarte. Alle Fäden liefen bei dem Mann zusammen, der bei ihrer Geburt maßgeblich beteiligt gewesen war.
»Pfffft …«
Mehr brachte sie nicht heraus. Dann ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte Alen an, als würde er gleich die Auflösung all dieser Rätsel aus dem Hut zaubern.
»Echt blöd, dass ich damals mein Babyalbum nicht mitgenommen hab. Ich wüsste zu gerne, was bei mir neben der Rubrik Mein Arzt steht.«
Klara setzte sich auf. »Du könntest doch …«
Alens »Nein!« klang kategorisch. »Ich kenne ihn nicht mehr! Das hab ich ihm damals geschworen!« Seine Miene war eindeutig. Er war keiner, der seine Versprechen nicht hielt.
Klara hob
Weitere Kostenlose Bücher