Infinity (German Edition)
erwartet.«
Selbst Klara lief ein Schauer über den Rücken, als sie sich vorstellte, wie Lukas dem behinderten Jungen sämtliche Knochen zertrümmerte. Und dieses Bild sollte daran schuld gewesen sein? Bei dem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen.
Der arme Kerl hatte danach nicht nur ein geistiges Handicap, sondern auch noch verkrüppelte Beine.
Obwohl er keinen unglücklichen Eindruck auf sie gemacht hatte, fühlte Klara sich schlecht. War es wirklich nötig gewesen, ihm ihre Ablehnung so deutlich zu zeigen?
»Lukas’ Vater hatte Matthias gleich operiert. Der Junge war damals erst vierzehn gewesen. Die gebrochenen Schien- und Wadenbeine wuchsen zwar wieder zusammen, aber sie hielten mit dem restlichen Körperwachstum nicht mehr mit.« Frau Kirallys Bericht trieb Klara alles Blut aus dem Gesicht. Es tröstete sie kaum, dass die Direktorin ihr die Hand auf den Arm gelegt und mit einem Lächeln zum Wohnhaus hinüber gedeutet hatte. »Matthias hat einen gesegneten Charakter. Wissen Sie, er ist total stolz darauf, dass er sich seit dem Unfall, wie er es nennt, so leise anschleichen kann wie ein Indianer.«
Klara schmunzelte gegen ihren Willen. Das stimmte allerdings. Trotzdem quälte sie die Möglichkeit, dass dieser Lukas ihretwegen jemand anderen so brutal verletzt hatte.
Jonas kam ihr in den Sinn. Auch ihm gegenüber fühlte sie sich schuldig, ohne wirklich zu verstehen, warum.
… er ist über dich hergezogen … das hat mich wütend gemacht …
Jonas’ Worte waren ihr ins Gedächtnis eingebrannt. Gab es etwas an ihr, was andere Menschen außer Kontrolle geraten ließ? Oder war das alles nur ein fürchterlich blöder Zufall? Schließlich hatte sie absolut nichts mit der Schlägerei in der Schule oder dem Vorfall mit Richi zu tun.
… Richi …
Warum hatte er sterben müssen?
Sie fuhr sich über die Augen. Der Bus bog gerade in den Bahnhof ein. Endstation Heiligenstadt. Schwerfällig drückte sie sich aus dem Sitz hoch und ließ sich von den anderen Fahrgästen zum Ausstieg schieben. Unschlüssig blieb sie vor dem Abgang zur U4 stehen. Schule war keine brauchbare Option. Nach Hause konnte sie aber auch noch nicht. Sie kramte im Rucksack nach ihrem Handy. Der Wunsch, jetzt nicht allein zu sein, ließ sie das Telefonregister aufrufen.
Gleich an erster Stelle fand sie Alen.
Sie zögerte, ließ den Finger über der Anruftaste schweben. Wollte sie ihn wirklich sprechen oder war er nur die erste Wahl, weil sein Name zufällig mit A begann? Hatte sie überhaupt eine Alternative? Wer waren ihre Freunde? Jonas. Klar. Aber zu dem durfte sie nicht. Und sie musste sich eingestehen, dass sie sich auch nichts von einem Besuch bei ihm erwartet hätte, wenn der Wachbeamte vor seinem Zimmer weniger unerbittlich wäre. Sie sehnte sich nach einem Gespräch, bei dem beide Beteiligten bei Bewusstsein waren.
Richi … den hätte sie anrufen können … Oder redete sie sich das nur ein? Was hatten sie für eine Beziehung gehabt? War es Freundschaft gewesen? Oder Gewohnheit, weil sie jahrelang nebeneinander gewohnt hatten? War Richi nur zufällig ihr Freund gewesen? Hätte es genauso gut auch ein anderer sein können? Oder niemand?
Klara umklammerte mit den Fingern das Handy. Was sollte diese Fragerei? Wollte sie sich selbst quälen?
Gefühle machten das Leben verdammt kompliziert. Sie wusste wieder, warum sie bisher so gut darauf verzichten konnte.
Außerdem war die Grübelei völlig unerheblich. Richi war tot. Sie hatte gar nicht mehr die Wahl, ob sie ihn anrufen konnte oder nicht. Entschlossen drückte sie auf die grüne Taste. War doch egal, warum sie Alen anrief. Hauptsache, er konnte sprechen.
»Klara! Hast du nicht gerade Unterricht?« Alen klang überrascht. Aber irgendwie auch erfreut. Oder bildete sie sich das nur ein? Weil sie gerade so gefühlsduselig war?
»Nein. Schaut nicht so aus.« Sie zog die Nase kraus. Herrje, klang das unfreundlich! Das hatte sie doch gar nicht gewollt. »Ich hab mir heute freigegeben.« Sie versuchte es mit einem Lachen. Es kam ihr schrill vor. Aber besser, als der bissige Ton aus dem Satz davor.
»Ach …«
Hmmm … Nein. Das war nicht die Art von Gespräch, auf die sie gehofft hatte. Aber was hatte sie denn erwartet? Sie holte tief Luft und schloss die Augen.
»Okay. Neustart.« Sie musste das anders angehen. »Ich weiß, ich bin im Umgang mit anderen manchmal wie ein Elefant im Porzellanladen. Und Zwischentöne und Andeutungen krieg ich oft gar nicht mit. Aber ich
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