Infinity (German Edition)
sie wurden genommen, bevor wir diese Impfung bekommen haben.« Sie packte Lucie an den Armen und rüttelte sie. Das Licht der Taschenlampe warf zuckende Schatten durch den Raum. »Lucie, wir sind nicht mehr wir selbst! Dieser Arsch von Dr. Neumeier hat unsere Gene manipuliert!«
Die letzten Worte schrie sie so laut heraus, dass sie im Hals schmerzten. Es war ihr egal, ob man sie womöglich bis nach draußen hören konnte.
Alles lief plötzlich in Zeitlupe vor ihren Augen ab. Lucies Hand spannte sich um das Probefläschchen. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor und die rosa lackierten Nägel kratzten über das Glas. Ihr Mund öffnete sich, ohne dass ein Laut herauskam. Mit einem Surren ging eine Neonröhre an. Sie flackerte kurz, bevor sie das Labor in grelles Weiß tauchte. In der spiegelnden Fläche der Zentrifuge, die auf dem Tisch stand, konnte Klara sich selbst sehen. Und eine Person, die sich von hinten näherte. Groß und schlaksig, mit langen Armen und vom Kopf abstehendem blonden Flaum. Die Figur aus ihren Träumen kam auf sie zu und legte ihr eine Hand auf den Mund. Es roch eklig und Klara wollte sich wehren. Sie wollte Lucie zurufen, dass sie verschwinden sollte, doch ihre Zunge gehorchte ihr nicht mehr. Der Raum begann sich zu drehen, immer schneller, bis er in einer bunten Spirale endete. Ihr war übel. Scheißverdammtspeiübel. Sie wollte sich übergeben. Aber dazu kam sie nicht mehr.
_ 35 _
Mein Mädchen, du bist gekommen! Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet. Jetzt halte ich dich wieder in meinem Arm. Wie an dem Tag, an dem du mir zum ersten Mal begegnet bist.
Hab keine Angst. Ich werde dir keinen Schaden zufügen. Du bist doch mein Meisterwerk. Das Beste, was mir jemals in meinem Leben passiert ist.
Jetzt hat das Warten bald ein Ende. In Kürze werden die Menschen erfahren, welches Wunder wir in all den Jahren geschaffen haben.
Etwas Feuchtes wischte über ihr Gesicht. Es kitzelte auf der Haut. Warm und flauschig. Sie spürte einen leichten Druck gegen das Schlüsselbein. Feine Nadeln bohrten sich in ihren Hals. Sie stöhnte. Drehte den Kopf. Versuchte, die Stelle mit der Hand zu erreichen. Doch in ihren Adern floss Blei. Bis in die Augenlider. Sie versuchte trotzdem, sie hochzuziehen. Licht flackerte kurz auf, bevor sie sich wieder senkten. Sie konzentrierte sich. Beim nächsten Versuch schaffte sie es schon länger, die Augen offen zu halten. Blanke schwarze Kugelknöpfe tauchten aus einem regenbogenfarbenen Nebel auf. Darunter eine rosa Nase, eingerahmt von unendlich langen Tasthaaren, die zitternd über ihre Wange strichen. Der Überdruck in ihrem Körper ließ langsam nach. Erst konnte sie die Finger bewegen, dann die Zehen. Und bald hatte sie auch wieder Gefühl in ihren Gliedmaßen. Sie legte die Hand neben ihren Kopf und krümmte die Finger zu einer flachen Schale. Das Tier verstand die Aufforderung, als hätte sie sie laut ausgesprochen. Der warme Körper schmiegte sich in die Mulde und das pelzige Wesen ließ dabei keinen Blick von ihr.
»Hallo, du Süßer, gibt’s dich also wirklich.« Klara hörte ihre krächzende Stimme und räusperte sich. Vielleicht träumte sie ja doch nur wieder. Eine Hand legte sich auf ihren Rücken. Erschrocken warf sich Klara herum. In Träumen fühlte man nichts! Das Tier sprang mit einem Satz hoch und verschwand in der Brusttasche des Mannes, der hinter sie getreten war.
Klara sog die Luft ein. »Sie sind Lukas Neumeier.«
Sie wusste es, bevor er mit gesenktem Blick nickte. Das Tier, das in seinem weißen Mantel verschwunden war, hatte sie nicht nur aus ihren Träumen wiedererkannt, sondern auch von dem Bild, das dieser Mann vor zwölf Jahren gemalt hatte. Wie eine Springflut strömten die Erinnerungen aus allen Ecken ihres langsam erwachenden Bewusstseins auf sie ein. Lukas Neumeier hatte auch von ihr ein Bild gemalt. Wie war er dazu gekommen? Woher kannte er sie? Was hatte er mit der unfassbaren Entdeckung zu tun, die sie in diesem Labor gemacht hatten? Vorsichtig stützte Klara sich auf ihre Unterarme. Ihr Blick ging von dem blassen Gesicht mit den Flaumhaaren weiter durch den weiß getünchten nüchternen Raum. Wie spät war es? Mit einem Schlag fiel ihr wieder ein, warum sie hergekommen waren. »Wo ist Lucie? Und Alen?« Alle anderen Fragen waren unwichtig.
Zum ersten Mal hob er die Augen und erwiderte ihren fragenden Blick. Das waren sie. Die hellgrauen, beinahe durchsichtigen Augen, die sie in der S-Bahn beobachtet hatten. Und
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