Infiziert
zum Arzt zu gehen«, sagte er sich leise. »Beschissene Zeit, um zum Arzt zu gehen.«
Perry ging in die Küche, um etwas Paracetamol zu holen. Er bewegte sich langsam und vorsichtig und hielt sich den Kopf, als müsse er verhindern, dass sein hämmerndes Gehirn zu Boden fiel. Er warf einen Blick auf die Digitaluhr am Herd. 12:15 Uhr.
Angesichts seines pochenden Schädels benötigte Perry eine Weile, bis er im Bilde war – er fragte sich, wie es möglich war, dass die Sonne um fünfzehn Minuten nach Mitternacht am Himmel stehen konnte –, doch dann erkannte er seinen Fehler mit einem leisen Seufzen. Es war fünfzehn Minuten nach zwölf Uhr mittags. Er hatte verschlafen und war nicht zur Arbeit gegangen. Und auch jetzt war er nicht in der Lage, zur Arbeit zu gehen, wenigstens so lange nicht, bis es seinem Kopf besser ging. Er sagte sich, dass er anrufen und alles erklären würde, aber erst, nachdem er geduscht hätte.
Die Paracetamol-Packung stand auf der Mikrowelle, direkt
neben dem hölzernen Messerblock. Sein Blick ruhte auf der Geflügelschere. Nur die braunen Plastikgriffe waren zu sehen, doch im Block selbst steckten die dicken, gezackten Klingen, die sich problemlos durch rohes Fleisch schneiden konnten, als handle es sich um Papier. Und durch Hühnerknochen, als handle es sich um einen trockenen Zweig. Einen Augenblick lang war er völlig fasziniert. Dann griff er nach der Paracetamol-Packung.
Er warf sich vier Tabletten in den Mund, formte mit seinen Händen eine Schale und trank etwas Leitungswasser, um sie hinunterzuspülen.
Danach stolperte er zurück ins Bad, wobei er sich noch im Gehen auszog. Er trat unter die dampfende Dusche und genoss den herabprasselnden Strahl. Immer wieder legte er den Kopf zur Seite, sodass das Wasser ihm den Schleim aus den Haaren und vom Gesicht spülen konnte. Die heiße Dusche belebte seine schlaffen Muskeln. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich ein wenig. Er hoffte, dass die Wirkung des Paracetamols bald einsetzen würde, denn er hatte so heftige Kopfschmerzen, dass er kaum mehr sehen konnte.
29
Motivation
Dew weigerte sich zu weinen. So etwas würde nicht geschehen. Alles wollte heraus, und es war schwer, es wieder zurückzudrängen, aber so etwas kam absolut nicht in Frage. Er war nicht in diesem Geschäft, um Freunde zu finden. Es
tat weh, natürlich tat es weh, aber Malcolm Johnson war nicht sein erster Freund, der in Erfüllung seiner Pflicht gestorben war.
Mit wie vielen Dingen würde er zurechtkommen müssen? Wie viel konnte er verkraften? Den Tod wie vieler Menschen würde er noch miterleben müssen?
Wie viele Menschen würde er noch … töten müssen?
Er schniefte und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. Es wurde Zeit, dass er wieder Kontakt aufnahm.
Dew zog sein kleines Handy aus der Tasche – das normale – und wählte. Es klingelte dreimal, bevor sich jemand meldete.
»Hallo?«
»Hi, Cynthia. Ich bin’s, Dew.«
»Oh, hi, wie geht’s dir?« Ihre Worte trugen die ganze Geschichte der beiden mit sich, all die Jahrzehnte, die ihn bis zu diesem Punkt geführt hatten, wenn man so will. Dew und Cynthia hatten einander einst mit einer Leidenschaft gehasst, die bei ihm noch über das hinausging, was er gegenüber einem Feind in der Schlacht empfand. Dieser Hass war aus Liebe geboren worden, aus tiefer, allumfassender Liebe für denselben Menschen.
Dieser Mensch war Sharon, Dews einziges Kind.
»Um die Wahrheit zu sagen, ich hab mich schon besser gefühlt, und zwar schon oft«, sagte Dew. »Aber erzähl Sharon nichts davon, okay?«
»Klar. Soll ich sie dir geben?«
»Bitte.«
»Einen Augenblick.«
Er und Cynthia würden nie wieder Freunde sein, aber wenigstens respektierten sie einander. Und das mussten
sie auch, denn Sharon liebte sie beide, und wenn Dew und Cynthia stritten, zerriss es Sharon das Herz.
Es war schwer für ihn, erfahren zu müssen, dass seine kleine Tochter sich für lesbisch hielt. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Schmerz und der Wut, die er sieben Jahre später empfand, als er hörte, dass Sharon und Cynthia mehr als nur Partner waren; sie hatten eine Art Trauungszeremonie abgehalten – oder wie immer man das auch nennen mochte –, und jetzt waren sie praktisch verheiratet. Ehefrau und Ehefrau. Er hatte getobt, hatte die beiden angeschrien, hatte ihnen Bezeichnungen an den Kopf geworfen, die er am liebsten wieder zurückgenommen hätte. Cynthia hatte natürlich zurückgeschrien. Sie wollte Sharon
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