Ingrid
»Wird der Name Kramer auch bekannt gegeben?«, fragte ich, als die Stille anhielt.
»Nein, jedenfalls noch nicht.« Wieder blickte Kemming eine Weile lang schweigend geradeaus. »Angesichts der Tatsache, dass wir bei den Ermittlungen mit der Polizei in Amsterdam zusammenarbeiten werden …« Er drehte seinen Vogelkopf in meine Richtung. »Werden Sie sich weiterhin mit diesem Fall beschäftigen?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte ich.
»Tja, ich muss eben vorsichtig sein«, antwortete er zurückhaltend. »Ich möchte keine Schwierigkeiten mit dem Rest des Ermittlungsteams bekommen. Wie werden noch einigen Hinweisen nachgehen und ein oder zwei Leute aus der Nachbarschaft etwas gründlicher vernehmen …«
Bokhof wahrscheinlich. »Seid ihr nebenan fertig?«
»Ja. Der Bruder hat schon den Schlüssel bekommen, er wird sich um die Hinterlassenschaft und die Beerdigung kümmern. Sie wird am Samstag stattfinden, aber Jeroen Kramer hat uns gebeten, so wenig wie möglich an die Öffentlichkeit zu bringen, weil er die Presse und das Fernsehen nicht gerne dabei haben möchte.«
Ich nickte. »Um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich habe den Auftrag erhalten, Jennifers Angehörige ausfindig zu machen. Der Bruder ist ihr einziger Verwandter, aber vielleicht werde ich mich auch noch auf die Suche nach Tommys Vater begeben.«
Wieder zögerte er eine Weile. »Mit Ihren Kontakten in Amsterdam werden Sie es ja sowieso bald erfahren«, begann er, als wolle er einen gewagten Entschluss rechtfertigen. »Natürlich haben wir uns gefragt, warum die Ermordete einen anderen Namen angenommen hatte. Wir haben ihren richtigen Namen gründlich überprüft, und unsere Nachforschungen haben uns nach Amsterdam geführt. Jennifer Kramer hatte ein Vorstrafenregister. Vor fünf Jahren hat sie wegen Autodiebstahls eine kurze Gefängnisstrafe abgesessen. Danach verwischt sich ihre Spur. Ihre Akte ist an das ZKA weitergeleitet worden, und es wird ziemlich schwierig sein, sich dort einen Einblick in die Unterlagen zu verschaffen.«
»Das ZKA?« Ich war ratlos. Was wollte das Zentrale Kriminalamt, die überregionale kriminalpolizeiliche Informationsbehörde, von einer kleinen Autodiebin?
Kemming seufzte. »Es ist denkbar, dass wir letztendlich in Amsterdam nach dem Täter fahnden müssen, und dann werden vielleicht ich und ein Teamkollege mit Ermittlern von der Amsterdamer Kripo zusammenarbeiten müssen. Wir beraten bereits darüber, auch mit dem Staatsanwalt.«
»Ich wünsche Ihnen viel Spaß in unserer Hauptstadt«, sagte ich höflich, während ich überlegte, ob er mir all diese Informationen vielleicht deswegen zukommen ließ, weil er demnächst jemanden aus Amsterdam brauchte und ich so ein Jemand war. Doch er ließ sich nichts dergleichen anmerken, als er den Rest seines Bieres ins Glas goss, es austrank und von seinem Stuhl aufstand. »Nun«, sagte er. »Es war nett, sich einen Augenblick mit Ihnen zu unterhalten.«
»Kommen Sie ruhig wieder«, sagte ich. »Und wenn ich irgendwie behilflich sein kann …«
»Gut.« Kemming blieb stehen, die Hände an den Taschen seines Sakkos und die Schultern ein wenig nach vorn gebeugt, wie ein Cro-Magnon-Mensch damals vor Erfindung der Heimtrainer. »Ich wüsste im Moment allerdings nicht, wie.«
Ich lächelte. »Vielleicht kann ich Ihnen ein gutes Hotel empfehlen.«
Er lächelte sparsam zurück. »Meine Frau hat sicher schon das Essen fertig. Danke für das Bier. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.« Er ging die Terrassentreppe hinunter und hob die knochige Hand zum Gruß, bevor er um die Hausecke verschwand.
Vielleicht war mir sein Verhalten deshalb ein solches Rätsel, weil auf dem Land einfach andere Sitten herrschten als in der Stadt. Hier gingen Kriminalbeamte um sechs Uhr nach Hause, wo ihre Frauen das Essen auf dem Tisch hatten. Max Winter dagegen schnitt eine Tomate klein, briet sich ein Steak und aß es in seiner Küche, mit einem Glas Wein dazu und vielleicht der Zeitung. Das war es doch, was er wollte, gemütlich ganz für sich allein auf dem platten Land.
Gegen Mitternacht trat ich noch einmal hinaus auf die kühle Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Absolute Stille wie in den Schweizer Bergen oder am abschmelzenden Nordpol herrscht in den Niederlanden höchstens einmal auf abgelegenen Heidefeldern während des Gedenkens an die Toten des Zweiten Weltkriegs, doch an der Linge war diese Nacht still genug, um ein leises Poltern in Jennifers
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