Ingrid
ließen. Jennifer war ermordet worden, sie lag unter der Erde, sie war fort, und sie hinterließ nichts außer einem Sohn.
Ihr Bruder warf einen Strauß Blumen auf den Sarg und nahm schweigend die Kondolenzwünsche in Empfang. Sein Gesicht drückte Schuldbewusstsein aus, und dieses Gefühl schien echt zu sein. Jeder fühlt sich schuldig, wenn es irgendwann zu spät ist. Auch ich fühlte mich schuldig; vielleicht ein normales Gefühl, wenn man Nachbarn gewesen war.
Am eisernen Tor standen wir noch kurz beisammen. »Gib dem Mann die Hand«, sagte Ingrid zu Tommy. »Das ist dein Onkel Jeroen.«
Jeroen ergriff Tommys Händchen mit der ungeschickten Vorsicht kinderloser Erwachsener. »Ich glaube nicht, dass er mich noch kennt, ich habe ihn zuletzt gesehen, als er vier oder fünf Monate alt war.«
Ingrid nickte dem aufbrechenden Spa zu und wandte sich mit einem Lächeln an mich. »Jeroen ist glücklicherweise mit der Adoption einverstanden«, berichtete sie flüsternd. »Außerdem hat sich herausgestellt, dass er nicht die geringsten Verpflichtungen hat, er braucht einfach nur dem Antrag stattzugeben.«
»Schön«, murmelte ich.
Ingrid war nicht zu bremsen. »Die Polizei sagt, ich müsse mich bei der Zentrale für Pflegefamilien melden, aber ich will mehr sein als nur seine Pflegemutter, nicht wahr, Tommy?« Sie streichelte Tommys blonde Locken. Das Kind starrte mit seinen seltsam unwirklichen Augen über ihre Schulter hinweg auf den mit schwarzen Gardinen und Silberverzierungen geschmückten Leichenwagen, der vor Ingrids rotem Honda am Straßenrand stand. Der Bibelleser wartete auf dem Fahrersitz auf die Totengräber.
»Das Jugendamt hat einer VPS zugestimmt«, sagte Ingrid, und fügte mit einem Blick auf meinen Gesichtsausdruck hinzu: »Einer vorläufigen Pflegschaft.«
Jeroen folgte dem Blick seines Neffen. Wieder sprach diese Mischung aus Schuld und Reue aus seinem Gesicht, und ich sagte: »Vielleicht sollten wir lieber später darüber sprechen.«
»Ich habe keine Ahnung, wie das bei so einer Adoption funktioniert«, sagte Jeroen gezwungen zu Ingrid. »Was ist zum Beispiel mit seinen Blutsverwandten?« Sein gezwungenes Lächeln verlieh ihm wieder dieses Verletzliche, Jungenhafte. »Wird ein Onkel mitadoptiert?«
»Das weiß ich nicht.« Ingrid war zu sehr mit ihren eigenen Ambitionen beschäftigt, um Jeroens Unbehagen zu bemerken. Drängend schaute sie mich an und sagte mit hörbarer Ungeduld: »Gut, wir können uns gerne später unterhalten, aber nach einer VPS müssen die Untersuchungen des Jugendamtes innerhalb eines Monats abgeschlossen sein.« Mit einem viel sagenden Nicken wies sie auf Tommys Kopf und formte mit den Lippen das Wort »Vater«.
»Ich tue mein Bestes«, sagte ich beruhigend. Jeroen und ich begleiteten sie zu ihrem roten Honda. Sie packte Tommy in einen Kindersitz, der bombensicher und funkelnagelneu aussah. »Du bist für die Mutterschaft ja schon gut gerüstet«, bemerkte ich.
Ingrid ignorierte die Ironie in meinen Worten und winkte Jeroen zu. »Sehen wir uns noch?« Jeroen nickte, und wir schauten zu, wie sie einstieg und losfuhr. »Ich glaube, sie wird gut zu dem Jungen sein«, sagte er dann.
»Wahrscheinlich.«
Er hörte mein Zögern heraus. »Meinst du nicht?«
Ich weiß nicht, wo meine Bedenken herrührten. Vielleicht lag es an Ingrids Sprunghaftigkeit. Von der stürmischen Nymphomanin zum Kühlschrank. Doch jedes Kind konnte sehen, dass sie Jennifers kleinen Sohn beinahe abgöttisch liebte. »Wenn du Tommy nicht selbst zu dir nehmen kannst …«
»Mirjam würde sich bedanken.« Er errötete: »Nein, ich sollte es nicht auf Mirjam schieben«, gab er mit einer Aufrichtigkeit zu, die die Nähe des Todes manchmal bewirken kann. »Ich selbst will es auch nicht. Mein Leben gefällt mir genau so, wie es ist. Ich müsste meinen Beruf aufgeben oder Mirjam heiraten, und dann müsste sie aufhören zu arbeiten … Nein, das ist nichts für mich.«
»Das muss dir nicht unangenehm sein. Es ist dein Leben. Bei Ingrid wird es ihm an nichts fehlen, und es ist auf jeden Fall besser, als wenn er in ein Waisenhaus käme.«
Er nickte, nicht hundertprozentig überzeugt. »Ich muss noch zu Jennys Haus, um nachzusehen, was dort an Möbeln steht. Ingrid sagt, das meiste gehöre dem Hausbesitzer. Bist du zu Fuß hier?«
Ich fuhr mit ihm in seinem neuen Toyota Picnic, der genau zu dem Klischee eines Strandpicknicks veranstaltenden KLM-Stewards passte. »Ich bin noch nicht in ihrem Haus gewesen«,
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