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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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gefegt worden sein. Aber es gab nichts, womit die Splitter nach draußen hätten gekehrt werden können.
    Ich musste davon ausgehen, dass die Spurensicherung die Splitter ebenfalls bemerkt und dieselben Schlüsse daraus gezogen hatte. Die Scheibe war von innen kaputt geschlagen worden, und anschließend hatte der Mörder das Glas hastig hinein und um die Tür herum gefegt, entweder mit seinem Fuß oder mit einem Besen. Er hatte es natürlich eilig gehabt, und es war dunkel gewesen. Ein paar kleine Splitter hatte er übersehen.
    Das erschien auf den ersten Blick ziemlich dumm. Warum nicht erst nach draußen gehen, Tür zu und dann die Scheibe einschlagen? Solche Warum-so-und-nicht-so-Fragen, die immer logische Beweggründe voraussetzten, führten oft in eine Sackgasse, denn in der Regel handelte der Täter überhastet und in Panik. Oft war die naheliegendste Erklärung ganz einfach die, dass er nicht logisch denken konnte.
    Einen Menschen zu töten, ist nicht einfach, es ist eine einschneidende und erschreckende Erfahrung. Wie einschneidend, begreift der Mörder vielleicht erst, wenn sein Opfer vor ihm niedersinkt und sein röchelnder und zuckender Todeskampf beginnt. Die Wirklichkeit ist nicht wie in den Fernsehserien, in denen Menschen wie anonyme Kegel umfallen oder durch die Luft geschleudert werden.
    Der Täter war ein Bekannter gewesen, darauf hatte der Kaffee bereits hingedeutet. Jennifer hatte ihn ohne Zögern hineingelassen.
    Außer, dass ich fünfzehn Millionen Menschen dadurch ausschloss, nutzte mir das Wissen, dass es ein Bekannter war, wenig. Jennifer hätte hundert Bekannte haben können. Wo waren die alle?
    Der Mörder musste ein Amateur gewesen sein, sonst hätte er einen kühlen Kopf behalten. Die Sache wirkte wie eine spontane Eingebung, auf dem Weg nach draußen, an der Hintertür: Es sollte aussehen wie ein Einbruch. Vielleicht hatte er einen Gegenstand aus dem Abstellraum benutzt, einen Holzschuh, einen Hammer. Oder noch einfacher: Die Mordwaffe war ein Brecheisen gewesen, das der Mörder bereits in der Hand hielt und das jetzt wahrscheinlich irgendwo auf dem Grund der Linge lag. Doch während er die Scheibe einschlug, wurde ihm klar, dass es von außen nach innen hätte geschehen müssen. Den Kaffee vergaß er ganz. Die Handschuhe dagegen nicht? Das Ganze war das reinste Chaos aus Willkür und Dummheiten. Es roch förmlich nach Bokhof, aber Jennifer hätte Bokhof garantiert nicht hereingelassen, um zwölf Uhr nachts. Oder doch?

 

5
     
     
    Es war ein winziger Friedhof; ich musste schon mindestens zehn Mal daran vorbeigeradelt sein, ohne ihn zu bemerken. Er lag gleich hinter der Brücke, direkt an der Straße, vollständig verborgen hinter einer alten Mauer, dichten Sträuchern und ein paar Zypressen. Es standen höchstens zwanzig Grabsteine darauf, verwahrlost, eingesunken und so verwittert, dass die Inschriften unleserlich geworden waren. Der Friedhof machte den Eindruck, als sei hier in den letzten hundert Jahren niemand mehr begraben worden, und vielleicht legte man Jennifer deshalb zwischen diese vergessenen Damen und Herren, weil sie mit niemandem verwandt war und man auch sie am liebsten vergessen wollte.
    Nur wenige Leute waren gekommen. Die Zeremonie war trist und nüchtern und dauerte kaum eine Viertelstunde. Obwohl die Sonne schien, war es auf dem Friedhof kalt. Es war eine unangenehme Schattenkälte, die nicht nur von der tatsächlichen Außentemperatur herrührte.
    Irgendjemand las den üblichen Bibeltext. Ingrid hatte Tommy auf dem Arm und starrte mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck hinüber zum Maisfeld diesseits des Flusses. Deine Mutter ist im Himmel, ich bin jetzt deine Mutter.
    Peter war nicht da. Sehr merkwürdig. Bokhof auch nicht, entweder, weil er nicht Bescheid wusste, oder weil er wieder Krach mit seiner Frau hatte. Der Spa begrüßte mich mit einem dezenten Kopfnicken und hielt sich ansonsten höflich abseits, gekleidet in einen feinen dunklen Nadelstreifenanzug mit grauem Hemd und einer Krawatte in einem dunkleren Grauton. Es gab keinen Leichenzug, nur den Leichenwagen, alle Gäste kamen unabhängig voneinander, und ich hatte nicht den Eindruck, dass im Anschluss an die Feierlichkeit irgendetwas organisiert worden war.
    Vier Träger hatten den Sarg auf Balken über das Grab gestellt, und wir standen schweigend darum herum, im toten Schlagschatten der Zypressen, bis sie schließlich Schlingen um den Sarg legten, die Balken entfernten und Jennifer hinuntersinken

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