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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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»Keine Ahnung.«
    Der Führerschein war vor drei Jahren ausgestellt worden, mit ihrem Foto, auf den Namen Jennifer van Maurik. Er sah echt aus, zumindest konnte ich keine Spur einer Fälschung daran entdecken. Ich steckte ihn zurück in die Brieftasche, als mir einfiel, dass Jennifer letztes Jahr auf den Antillen gewesen war. »Wo ist denn ihr Pass?«
    Jeroen runzelte die Stirn. Er drehte sich wieder zu dem Sekretär um und begann, vier offene Fächer zu leeren, rechts von einem größeren Mittelfach, in dem ich nur einen Becher mit Stiften, ein Kindermalbuch von Tommy und eine Schachtel mit Wachsmalkreiden und Buntstiften entdeckte. Aus den vier schmaleren Fächern kamen ein Stapel Briefumschläge, eine große Wäscheklammer mit Kontoauszügen und einige Metallhalter mit Papieren zum Vorschein, die aussahen wie Rechnungen, manche noch in ihren Umschlägen. Jeroen blätterte die Kontoauszüge durch und sagte: »Viel zu erben gibt es nicht, sie hatte ein paar Tausend auf der Bank …«
    Geld hatte ich sowieso nicht als Motiv in Betracht gezogen. »Hatte sie keine Aktien oder ein Sparbuch?«, fragte ich nichtsdestotrotz.
    »Nein, leider nicht. Ich meine, es tut mir Leid für sie, denn ansonsten hätte sie sich ein eigenes Haus kaufen können …« Er seufzte. »Ich werde die Bank beauftragen, ihr Guthaben auf ein Sparbuch für Tommy zu überweisen. Bis er zwanzig wird, sind eine Menge Euros daraus geworden.« Er legte die Briefhalter beiseite, ohne sich den Inhalt näher anzuschauen. Als die Fächer leer waren, fasste er zu meiner Verwunderung in das Kreuz zwischen ihnen und zog es heraus, sodass ein größeres Fach entstand.
    Ich schaute ihm über die Schulter. Er zeigte auf ein winziges Häkchen, das mich an den Verschluss eines Malkastens erinnerte. Es war geschickt hinter dem Trennwandkreuz verborgen gewesen war. Darunter erkannte ich nun den Kupferstreifen eines millimeterdünnen Klavierscharniers.
    »Der Sekretär gehörte meiner Mutter, und schon als Kinder wussten wir, dass das ihr Geheimversteck war.« Jeroen schob mit dem Daumen das Häkchen aus einer unsichtbaren Öse und zog die Stiltür auf. Dahinter verbarg sich ein brauner, verschlissener Umschlag. Jeroen nahm ihn heraus. Er blickte von dem Umschlag zu mir. »Das hier hat die Polizei nicht gefunden.«
    Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und ging so auf einen Diskretionsabstand von einem Meter.
    Jeroen öffnete den Umschlag. Heraus kam ein Pass, in dem ein paar gefaltete Blätter steckten. Er nahm die Blätter heraus, warf einen Blick in den Pass und gab ihn mir.
    Es war Jennys eigener Pass, vor fünf Jahren ausgestellt auf den Namen Jennifer Kramer. Vielleicht war er für sie der letzte Nachweis ihrer ehemaligen Existenz gewesen, aber vielleicht hatte ein Pass auf ihren anderen Namen auch einfach ihre Möglichkeiten überstiegen. Auf jeden Fall hatte sie dieses Exemplar für ihren Arubaurlaub benutzt.
    Ich fand keine Stempel, was auch nicht zu erwarten gewesen war. Wenn man mit Stempeln Eindruck schinden wollte, musste man die Grenzbeamten förmlich darum anbetteln, außer man reiste in Länder, für die man ein Visum brauchte. Davon gab es in dem Pass nur eines, das am 12. Januar vor vier Jahren ausgestellt worden war. Was hatte Jennifer Kramer vor vier Jahren mitten im eisigen Winter in Moskau gemacht?
    »Keine Ahnung«, antwortete Jeroen, als ich ihn danach fragte. »Lass mal sehen.« Ich zeigte ihm den Pass, aufgeschlagen auf der entsprechenden Seite, und er starrte ihn verständnislos an. »Wahrscheinlich ist sie mit Aeroflot geflogen, sonst hätte sie mich doch vorher gefragt …« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist sie mit jemandem zusammen unterwegs gewesen«, spekulierte ich.
    Jeroen reichte mir kommentarlos ein Blatt Papier, das zusammengefaltet im Pass gesteckt hatte. Es war ein kurzer Brief in unleserlicher Handschrift, typisch etwa für einen Arzt, der zu viele Rezepte ausstellte und zu wenige Liebesbriefe schrieb. Kein Briefkopf, kein Datum, nur folgende Zeilen:
    Liebe Jen,
    die Gegenvormundschaft existiert seit dem 1. Januar 1998 nicht mehr, du kommst also, was das betrifft, zu spät und ich kann dir leider nicht mehr helfen. Juristisch gesehen war diese Regelung sowieso fast bedeutungslos, falls es dir darum ging.
    Ich will gerne versuchen, dir zu helfen, wenn es jemals wirklich nötig sein sollte, aber du weißt, dass ich andere Interessen habe. Warum können wir einander nicht als Freunde in Erinnerung behalten und es dabei

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