Ingrid
sagte er. »Ich habe nur diese Ingrid besucht, um nachzuschauen, ob mit Tommy alles in Ordnung ist. Ich denke, ich werde der Adoption durch die beiden zustimmen. Ansonsten brauche ich nichts zu tun.«
»Hast du Peter kennen gelernt?«
»Ja. Ein netter Mann.« Wieder schaute er mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck an, als verspüre er das Bedürfnis nach Zustimmung oder Beruhigung. Er wirkte unsicher, was seine Verantwortlichkeiten betraf, oder vielleicht war es auch die Stimme seines Gewissens. »Ich habe mich nie um Jenny gekümmert«, bekannte er. »Meine Schwester ging ihren eigenen Weg. Wann habe ich sie zuletzt gesehen?«
»Als Tommy fünf Monate alt war«, half ich ihm.
»Stimmt, na ja … manchmal habe ich sie angerufen, und letzten Herbst habe ich ihr ein Ticket nach Aruba besorgt, damit sie mal rauskam. Aber ansonsten?«
Er schüttelte den Kopf. »Angeblich rücken Kinder näher zusammen, wenn sie ihre Eltern verlieren, jedenfalls hört man das immer. Aber bei uns war das nicht so. Ist das seltsam, oder falsch? Oder unnatürlich?«
»Ich würde nicht soviel auf Weisheiten aus Boulevardzeitschriften geben. Wann sind deine Eltern gestorben?«
»Meine Mutter vor zehn Jahren, an Krebs. Mein Vater ist nicht tot, er ist nach Südamerika gegangen, als Jenny zwanzig wurde. Zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag schickte er ihr eine Postkarte, auf der stand, dass er in den Anden lebe, zusammen mit einer Indianerin. Seitdem haben wir nie wieder etwas von ihm gehört. Ich habe noch nicht einmal eine Adresse von ihm, um ihm mitzuteilen, dass seine Tochter tot ist.«
Wir fuhren an meinem Haus vorbei und bogen in Jennifers Einfahrt ein. Er warf einen Blick auf die schwarzen Holzbalken und die kleinen Fenster des Heuschobers und fragte unsicher: »Hättest du noch einen Augenblick Zeit?«
Es fiel ihm offenbar schwer, allein hineinzugehen, und so folgte ich ihm, als er die Vordertür aufschloss. Ich konnte sein Unbehagen verstehen; das Haus eines frisch Verstorbenen zu betreten hatte etwas von Grabschändung an sich.
Jennifers Heuschober fühlte sich kühl und leer an, und die Luft war irgendwie abgestanden. Ich öffnete ein Fenster, um etwas Sommerwärme hineinzulassen, und setzte mich auf einen Stuhl an den hellen Holzesstisch. Jeroen stand eine Zeit lang herum und blickte sich unentschlossen um. Dann fing er an, Schubladen und Schranktüren zu öffnen und wieder zu schließen.
Ich räusperte mich und fragte: »Auf Schiphol hast du mit dem Satz reagiert: ›Hat dieser Mann es getan?‹, oder so ähnlich. Welchen Mann meintest du?«
Jeroen setzte sich auf den lederbezogenen Drehhocker vor einem antiken Sekretär, der zwischen zwei Fenstern an der Außenwand stand. Es war ein Damenschreibtisch aus Rosenholz mit ausklappbarer Schreibunterlage und zahllosen kleinen Fächern und Schubladen. Über der Schreibunterlage befand sich ein kleiner Holzvorsprung, der eine Lampe zum Leuchten brachte, wenn man daran zog. Es schien das einzig wertvolle Möbelstück in Jennys Haus zu sein. Die Polizei hatte den Inhalt natürlich durchsucht und ihn mehr oder weniger willkürlich wieder in die Fächer zurückgelegt.
»Welcher Mann?«, fragte Jeroen, einen Moment geistesabwesend. »Ach, das meinst du. Jenny hatte Probleme mit ihrem Vermieter.« Er griff nach Jennifers Handtasche, die auf der offenen Schreibtischklappe stand, schaute hinein und gab sie mir. Es waren ein paar Make-up-Utensilien darin, ein Portemonnaie und eine dünne Brieftasche mit einem Führerschein und ihrer EC-Karte.
»Hat sie dich deswegen um Hilfe gebeten?«
Er machte ein bedrücktes Gesicht. »Ja, sie bat mich, ihr dabei zu helfen, eine andere Wohnung zu finden, zur Not eine Mietwohnung in Amstelveen … Vielleicht würde sie noch leben, wenn ich mich sofort darum gekümmert hätte!«
»Hast du das der Polizei erzählt?«
Er biss sich auf die Lippen und schüttelte, den Kopf.
»Ich weiß absolut nichts über diese Sache und kann nicht einfach so jemanden beschuldigen …«
»Der Vermieter ist ein unangenehmer Typ, aber ich glaube nicht, dass er deine Schwester ermordet hat«, behauptete ich, mehr, um sein Gewissen zu beruhigen, denn aus heiliger Überzeugung. »Ich weiß nicht, ob irgendjemand sich darüber Gedanken gemacht hat, dass sie an diesem Mittwochmorgen eine Verabredung in Amsterdam hatte, wie jedenfalls Ingrid behauptet, die ja auf Tommy aufpassen sollte. Was für ein Termin könnte das gewesen sein?«
Jeroen zuckte mit den Schultern.
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