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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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zweiten Stock, das Büro seiner Sekretärin befindet sich direkt gegenüber des Aufzugs.«
    Der gepolsterte Lift kletterte in gesetztem Tempo nach oben. Ich schaute in den Spiegel, fuhr mit der Hand durchs Haar und studierte die Falten um meine Augen. In dem von der polierten Holzverkleidung reflektierten Altherren-Licht wirkten sie eher schick und interessant als einfach nur alt und verlebt.
    Ich schritt über einen dicken bordeauxroten Teppich hinüber zu Topfpalmen, die unter kleinen Spots die offene Schiebetür vor einer breiten Nische flankierten. Die Sekretärin wirkte knochig und anämisch genug, um sich in ihrer Freizeit ein hübsches Zubrot als Mannequin oder Fotomodell verdienen zu können.
    »Meneer Winter«, sagte sie förmlich und stand auf, um mich zu einer Tür zu bringen. »Meneer Niessen ist bereit, Ihnen Ihre Fragen zu beantworten.« »Sehr schön«, murmelte ich und erhaschte im Vorbeigehen einen Hauch ihres Narzissenparfüms, als ich das bescheidene, aber stilvoll eingerichtete Büro ihres Chefs betrat.
    Niessen war ein blonder, junger Mann mit einem sorgfältig gestutzten Schnurrbart und einem müden Gesicht; auf mich machte er den Eindruck eines jungen Strebers, der jede Stunde, die er berechnete, auch wirklich gearbeitet hatte. »Thomas Niessen.« Er begrüßte mich mit einem flüchtigen Händedruck und wollte meinen Ausweis sehen, als ich erklärte, ich sei Privatdetektiv.
    »Am Schild an der Tür sieht man gleich, dass hier nur einer der Chef ist«, sagte ich, als wir uns an seinem Schreibtisch gegenüber saßen.
    Niessen antwortete mit einem freudlosen Lächeln. »Dies hier ist eine alte Familienkanzlei, aber weil Vredeling der letzte Spross ist, können sich die Partner seit dreißig Jahren einkaufen. Er behält die Mehrheit, es ist und bleibt seine Firma.«
    »Sind Sie der jüngste Partner?«
    »Ja, seit kurzem. Was kann ich für Sie tun?«
    »Sie waren der Rechtsanwalt von Jennifer van Maurik.«
    »Richtig.«
    Das war ein Test gewesen, und er war drauf reingefallen. »Ich meine natürlich Jennifer Kramer«, sagte ich.
    Er errötete. »Ach ja, natürlich.«
    »Sie kannten sie also auch als Jennifer van Maurik, wohnhaft in Rumpt?«
    »Nach einem Verhör ist mir kaum zumute«, erwiderte er. »Die Polizei war bereits bei mir.«
    »Was wollte die Polizei von Ihnen?«
    »Was die Polizei immer will. Den Täter finden. Und was wollen Sie?«
    »Ich war Jennifers Nachbar und arbeite für das Ehepaar, dass Jennifers kleinen Sohn adoptieren will.«
    Sein Blick wurde unruhig, und jetzt fielen mir mit einem Mal seine eigenartigen Augen auf. »Ich bezweifle, dass ich Ihnen helfen kann«, sagte er abweisend.
    »Sie waren also ihr Rechtsanwalt. Als gratis Pflichtverteidiger, richtig?«
    Sein Lächeln war gekünstelt, und prompt flüchtete er sich ins Dickicht des Strafgesetzbuchs. »Das gibt es heute nicht mehr. Seit der Einführung des neuen Rechtsbeistandgesetzes muss jeder Mandant einen Pflichtbetrag je nach Einkommen beziehungsweise Vermögen entrichten. Die Rechtsanwaltskammer weist dem Mandanten einen Rechtsbeistand zu. Natürlich steht das Honorar, das man für eine solche Aufgabe erhält, in keinerlei Verhältnis zu den üblichen Tarifen.«
    Ich blickte ihn an. Das war nicht das erste Mal, dass mir jemand einen Vortag hielt, um einem bestimmten Thema auszuweichen. »Hat Jennifer Sie auch um Hilfe gebeten, als sie zum zweiten Mal verhaftet wurde?«
    Niessen betastete seinen Schnurrbart. »Das war nicht nötig.« Er zögerte einen Augenblick. »Eigentlich unterliege ich der Schweigepflicht, aber ich nehme an, dass sie unter diesen besonderen Umständen aufgehoben ist. Das Verfahren wurde eingestellt, weil Jennifer einen Deal mit der Kripo eingegangen ist. Sie wurde Informantin, und im Gegenzug sah man von einer Strafverfolgung ab, etwas in der Art.«
    Ich hörte kaum, was er sagte, weil mich seine blauen Augen immer stärker faszinierten. Sie standen weit auseinander und fokussierten nicht ganz richtig, als schauten sie gleichzeitig nach links und rechts anstatt geradeaus. Es verlieh ihm etwas Unirdisches, und plötzlich begriff ich, warum mich Niessen ohne Termin empfing, Jennifers Decknamen kannte und die ganze Zeit um den heißen Brei herumschlich.
    »Ich hatte an Theo gedacht«, sagte ich. »Aber jetzt sehe ich, dass Thomas mit Th viel logischer ist. Das hat Jennifer bestimmt auch gedacht.«
    Niessen runzelte geistesabwesend die Stirn. »Ach?«
    »Ja.« Ich holte den Brief aus Jennys Geheimfach

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