Ingrid
aus meiner Brieftasche und gab ihn ihm. »Es ist mir nicht sofort aufgefallen, obwohl der Junge Tommy heißt, soweit ich weiß ohne Th, weil ein normaler Mensch nun einmal nicht automatisch davon ausgeht, dass ein Rechtsanwalt seine Mandantin verführt, schwängert und sie anschließend im Regen stehen lässt.«
Er fiel nicht Ohnmacht, aber es hätte nicht viel gefehlt. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, sein Gesicht wurde aschfahl und er krallte sich an seinem Schreibtisch fest, als suche er einen Halt oder wolle versuchen, einen Fluchttunnel nach China zu graben.
Es wurde an die Tür geklopft. »Hallo, Thom!« Eine Dame mit altmodischer Korkenzieherlockenfrisur steckte zuerst den Kopf herein und betrat dann das Büro. »Ist was nicht in Ordnung?«
Niessen vollbrachte ein kleines Wunder an Selbstbeherrschung. Er legte die Hände an die Stirn, warf mir durch die Finger einen flehentlichen Blick zu und sagte: »Tut mir Leid, ich musste nur kurz über etwas nachdenken.«
Sie runzelte ihre hohe Stirn. Die Korkenzieherlocken umrahmten ein schmales, relativ kühles Gesicht mit blasser Haut, einem Anflug von Sommersprossen und klassischer Ausstrahlung. Sie war Anfang dreißig, groß, hielt sich kerzengerade und besaß einen wohlgeformten Körper, der in einem maßgeschneiderten Designerkostüm aus geranienrotem Sommerstoff steckte.
»Er arbeitet zu hart«, bemerkte ich.
Sie ignorierte mich und durchquerte den Raum. Niessen hatte seinen Brief an Jennifer noch vor sich liegen und konnte ihn nicht verbergen, ohne dass es aufgefallen wäre. Deshalb stand er auf, ging ihr entgegen und küsste sie auf die Wange. Er tat es rasch und geschmeidig, und sein Verhalten wirkte ganz natürlich, doch ich sah, dass seine Hand auf ihrer Schulter ein wenig zitterte. »War Tilly nicht da?«
»Meinst du etwa, ich soll mich von deiner Sekretärin anmelden lassen?« Es sollte wie ein Witz klingen, doch ihre Stimme hatte einen scharfen Unterton. Dann veränderte sich ihr Tonfall, als würde ihr plötzlich bewusst, dass sie nicht alleine waren. »Ich wollte nur wissen, ob du an das Geschenk für Rupke gedacht hast, das Geschäft schließt um sechs Uhr.«
Niessen antwortete mit einer Handbewegung. »Ist schon erledigt. Das hier ist Meneer Winter …«
Ich gab ihr die Hand und sagte wie nebenbei: »Ich belästige ihn mit Geistern aus seiner Vergangenheit.«
»Louise Vredeling.« Sie schaute Niessen fragend an, während ihr Name in meinem Gehirn eine Runde Schlittschuh lief. Die Tochter des Chefs?
»Es geht um eine frühere Mandantin«, erklärte Niessen.
Ihre Augen wurden kühler. »Meine Güte, doch nicht etwa schon wieder diese ermordete junge Frau, wegen der die Kripo bereits hier war? Diese kleine Autodiebin?« Sie schaute mich an, jetzt argwöhnisch, als frage sie sich, was ich mit »Geistern« gemeint hatte. »Wurde der Täter schon gefasst? Oder sind Sie nicht von der Polizei?«
»Nein, Mevrouw«, antwortete ich höflich und unterdrückte dabei den Reiz, Niessen noch mehr in Bedrängnis zu bringen. »Ich benötige nur ein paar Informationen.«
Unauffällig manövrierte sich Niessen zwischen Louise und mich und begann, sie aus seinem Büro hinauszudrängen. »Ich komme dich um sieben Uhr abholen, ist das früh genug?«
Sie ging, und eine Weile lang blieb es still. Dann fragte ich ironisch: »Vredeling ist also doch nicht der letzte Spross? Oder zählen Töchter nicht mit?«
Niessen blieb schweigend an der Tür stehen. Vielleicht brauchte er Zeit, um sich von seinem Schrecken zu erholen, oder um sich eine geeignete Methode auszudenken, mich umzubringen.
Ich drehte meinen Stuhl zu ihm hin. »Ich glaube, ich kann mir das Problem in etwa vorstellen. Ich bin mit dem Gesetz und dem Kodex für Rechtsanwälte nicht so vertraut, aber steht in Artikel 46 nicht in etwa, dass ›jegliches Handeln, das sich für einen verantwortungsbewussten Rechtsanwalt nicht ziemt‹ mit einem Disziplinarverfahren geahndet wird? Oder reicht es heutzutage, vor dem Disziplinargericht ehrliche Reue zu zeigen, wenn man eine Mandantin vernascht hat?«
Seine Freundlichkeit mir gegenüber hatte sich so ziemlich erschöpft. Er kam auf mich zu und sagte: »Ich kann hier nicht reden.«
Das konnte ich verstehen. Wir verabredeten uns in einem Lokal um die Ecke.
Manche Gaststätten wecken in mir einen nur schwer zu unterdrückenden Appetit auf Frikadellen, eine Portion Käse, Cocktailhäppchen oder, in Utrecht, auf eine berühmte und ungeniert nach Pappe
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