Ingrid
sondern den Mörder, obwohl das womöglich keinen Unterschied macht.«
Ich beobachtete ihn genau. Meine letzten Worte schienen ihn nicht zu treffen, vielleicht begriff er gar nicht, was ich sagen wollte. Nach einer Weile stieß er einen Seufzer aus. »Meine Nerven. Ich werde allmählich paranoid. Erst war die Kripo bei mir, dann das hier. Gerade erst bin ich jüngster Teilhaber geworden …«
»Und mit der Tochter des Chefs verlobt«, unterbrach ich ihn.
Er seufzte. »Aber ganz sicher nicht, weil sie die Tochter des Chefs ist.«
Ich misstraue jeder Erklärung, in der »ganz sicher nicht« oder »ganz ehrlich« vorkommen. »Aber es ist hilfreich?«
Die galaktischen ET-Augen, mit denen auch sein Sohn geschlagen war, schienen zu beiden Seiten an meinen Schläfen entlangzuwandern. »Ich bin ehrgeizig, ich will Karriere machen, ich will zu gegebener Zeit Vredelings Nachfolger als Kanzleichef werden, gut genug bin ich. Spricht vielleicht irgendetwas dagegen?«
»Besser, als von der Sozialhilfe zu leben.« Er reagierte sichtlich gereizt darauf, dass ich mich über ihn lustig machte, und deshalb sagte ich: »Nana, wenn du nicht mal einen kleinen Witz vertragen kannst, wird das nie was mit uns beiden.«
»Für mich gibt es da nicht viel zu lachen.«
»Das stimmt. All deine schönen Pläne gehen den Bach runter, wenn man dir Handschellen anlegt und dich wegen Mordverdachts verhaftet.« Ich glaube, ich versuchte unbewusst, ihm seine Unverschämtheiten heimzuzahlen, und diesmal verstand er, worauf ich hinauswollte. Entsetzt schaute er rechts und links an mir vorbei. »Könnte es denn so weit kommen?«
»Wenn ich es schaffe, herauszufinden, dass du der Vater bist und Jennifer dich erpresst hat, schafft die Polizei es auch. Du hast ein äußerst plausibles Motiv, das wird niemandem entgehen. Hast du sie umgebracht?«
»Nein.« Er tat sein Bestes, mir geradewegs in die Augen zu schauen. »Ich könnte gar niemanden umbringen, schon gar nicht die Mutter meines Kindes.«
Er wäre nicht der erste Mörder gewesen, der überzeugend klang. »Hast du ein Alibi für Dienstag, den 13. Juni?«
Er seufzte wieder. »Das ist das Problem.«
»Warum? Wie Godfried Bomans schon gesagt hat: Man hat es oder man hat es nicht.«
»Ich habe eins«, sagte er. »Aber ich kann es nicht anführen. Wenn ich darauf zurückgreifen muss, kann ich meine Karriere vergessen.«
»Das musst du mir erklären.«
Niessen zögerte. Wir hatten mit gegenseitigen Beleidigungen begonnen, aber jetzt wurde die Atmosphäre entspannter, wie es häufiger vorkommt, wenn zwei Leute miteinander im Clinch gelegen haben. »Ich möchte dich engagieren«, sagte er.
Ich starrte ihn an. »Warum?«
»Meulendijk hatte Probleme mit deinem eigensinnigen Charakter, nicht aber mit deiner Arbeit als Detektiv.«
»Nett von ihm, aber das meinte ich nicht.«
»Weiß ich.«
Ich lachte. »Du versuchst, ein Vertrauensverhältnis zu mir aufzubauen, damit ich gegenüber der Polizei den Mund nicht mehr aufmachen kann.«
»Das auch«, gab er zu, »aber das ist nicht der Hauptgrund. Ich gehe ganz andere Risiken ein, jeden Tag, solange der Mörder frei herumläuft. Ich kann nicht darüber reden, es sei denn, du nimmst meinen Auftrag an, im Mordfall an meiner früheren Mandantin zu ermitteln.«
Ich ließ die Umschreibung unkommentiert. »Aber damit beschäftigt sich bereits die Polizei, und sie verfolgt diverse Spuren.«
»Ich bin Strafverteidiger und verstehe ein wenig von eurem Beruf. Ist ein Mordfall nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden aufgeklärt, wird es schwierig. Nach vier Tagen ist die Spur kalt. Für mich zählt jeder Tag.«
Stühle schabten über den Boden. Drei Männer setzten sich an den Tisch neben uns, mit Pilsgläsern, die sie vom Tresen mitgebracht hatten. Das Lokal begann sich zu füllen.
Ich schaute Niessen an und verstand in etwa, worin sein Problem bestand. »Ich muss auch an meine Berufsehre denken«, sagte ich. »Bei zwei Klienten in demselben Fall könnte es entgegengesetzte Interessen geben.«
»Es sei denn, es geht um völlig verschiedene Aufträge«, entgegnete Niessen. »Für den einen sollst du den Vater finden, für den anderen den Täter, der Unterschied könnte nicht größer sein.«
»Außer wenn der Vater der Täter ist.«
»Ich dachte, über dieses Stadium seien wir hinaus«, sagte er mürrisch.
Ich schaute ihn verwundert an und sagte: »Vielleicht solltest du einen anderen Detektiv engagieren.«
Er erwiderte meinen Blick mit seinen
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