Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
kam immer näher. Er war ungefähr ein Drittel so groß wie Zanes Körper, beherrscht von
den riesigen, facettierten Augen, die ungefähr ein Viertel seiner Gesichtsoberfläche einzunehmen
schienen. Die langen Fühler traten aus ihren Verankerungen unmittelbar innerhalb der Augenhöhlen
hervor, und zwischen ihnen lugten drei winzige Augen, die nicht größer waren als Zanes eigene.
Noch nie war Zane mit derartiger Klarheit bewußt geworden, wie sehr sich Insekten von Menschen
unterschieden. Fünf Augen von zwei unterschiedlichen Größen und doch ergab das Sinn.
Offensichtlich waren die kleinen Augen »Sucher«, die die Außenwelt ganz allgemein absuchten,
damit sich die großen, spezialisierten Sehorgane auf ihre Ziele konzentrieren konnten.
Doch im Augenblick waren es die Scheren, die Zanes entsetzte Aufmerksamkeit beanspruchten. Das
Maul glich einem klobigen Vogelschnabel, von zahlreichen dünnen Auswüchsen umgeben. Zane stellte
sich vor, wie sich diese Scheren in sein Fleisch senkten, und verlor die Nerven. Er hatte daran
gedacht, den Kopf des Ungeheuers anzuspringen und ihm die schönen facettierten Augen
auszustechen, doch nun erstarrte er vor Furcht und Ekel.
Die Augen musterten ihn. Die riesigen facettierten Gebilde wirkten wie Fenster über tiefen,
dunklen Brunnen und erinnerten ihn an geschliffene Edelsteine. In den nahe gelegensten Facetten
erblickte er sein mehrfaches Spiegelbild und war sicher, daß dies auch das Bild war, das die
Abtöterin von ihm hatte. Jetzt konnte das Ungeheuer ihn weitaus deutlicher sehen als
umgekehrt!
Der Kopf bewegte sich. Zane stieß einen Schrei aus und fiel vom Bein herab. Er prallte
schmerzhaft auf den Rücken, und der Kopf schoß auf ihn zu. Nun wußte er, daß er erledigt war weil
er den Mut verloren hatte.
Doch der Kopf schlug nicht zu. Statt dessen wurde er von den Vorderbeinen aufgenommen, die ihn in
die Höhe trugen.
Zahnähnliche Auswüchse umklammerten seinen Rumpf und hielten ihn mit erschreckender
Selbstsicherheit fest. Natürlich hatte der Kopf nicht sofort zugeschlagen, erkannte er; die
Abtöterin ernährte sich dadurch, daß sie ihre Opfer packte und ihnen bei lebendigem Leibe
Fleischstücke aus dem Leib riß.
Nun hatte sie ihn. Würde sie ihre Mahlzeit damit beginnen, daß sie ihm den Kopf abbiß, oder würde
sie eine der saftigen Gliedmaßen bevorzugen? Vermutlich letzteres, denn diese Art von Ungeheuer
zog es vor, nur das allerfrischeste Fleisch zu essen, und solange der Kopf noch intakt blieb,
blieb das Opfer auch länger am Leben. Möglicherweise würde die Abtöterin sogar ein Loch in ihn
hineinbeißen, damit sie sich ein wenig warmes Blut als Aperitif gönnen konnte. Knacks, dann würde ein Bein abgekaut; und dann: schlabber, als das Blut aufgeleckt wurde!
Vorausgesetzt, daß das Insekt eine Zunge besaß; das wußte Zane nicht so genau.
Hilflos wartete er eine scheinbare Ewigkeit auf das, was nun geschehen würde, während seine
Gedanken auf schizoide Weise umhertrieben und sich vorstellten, wie seine Knochen wie
Maschinengewehrgeschosse wieder ausgespuckt wurden, während sein Schädel als allerletzte
Delikatesse zum Schluß dem Ungeheuer zum Opfer fiel. Diese Szenarien hoben nicht eben seine
Stimmung. Sein Schicksal war besiegelt; da wäre es das mindeste, daß er die Sache auf positive
Weise anging.
Er zwang seine Gedanken zu einem anderen Muster und erlitt einen weiteren kreativen Lichtblitz:
Es war eine Nova.
»Du kannst mich gar nicht umbringen!« rief er. »Deswegen wartest du auch!«
Die leuchtenden Augen wurden durchsichtig.
»Weil das ein Paradox wäre«, fuhr Zane fort und entwickelte dabei die Logik weiter, die hinter
seiner Offenbarung stand.
»Meine Seele befindet sich im Gleichgewicht, genau wie damals, als ich das Amt des Todes
übernahm, und das wird sie auch während meiner gesamten Probezeit bleiben. Wenn ich sterben
sollte, müßte der Tod persönlich vorbeikommen, um meine Seele zu holen - und der Tod bin ich
selbst. Das heißt, ich müßte mich selbst abholen - und das ist widersinnig.«
Noch immer verharrte das Ungeheuer wartend.
»Du kannst also nichts anderes tun, als mir Angst einzujagen. Das Paradoxon beschützt mich!
Deshalb mußte es auch einen Ausweg aus dem Erstickungszauber geben, hat der Mann mit dem Gewehr
Luna erwischt anstatt mich. Das ist überhaupt kein Zufall gewesen, sondern eine ganz bewußte
Täuschung. Der Vater der Lüge kann mich nicht auslöschen! Er wollte mich glauben
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