Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
das!
»Komm schon, genießen wir den Abend«, sagte Luna. »Kämpf nicht gegen das Unausweichliche an,
damit vergeudest du nur das bißchen Zeit, das uns noch bleibt.«
Sie hatte erfahren, daß sie sterben mußte... Deshalb hatte sie sich für ihn hübsch gemacht. Auf
der einen Seite war das eine absolute Narretei, denn sicherlich hätte sie in ihren letzten
Stunden bessere Dinge tun können. Aber auf der anderen Seite war es auch äußerst schmeichelhaft,
denn sie hatte sich dazu entschlossen, zu tun, was sie tun wollte - und zwar mit ihm!
Ein warmes Gefühl durchflutete ihn plötzlich, teils freudige Wertschätzung, teils wachsende
Trauer. Er konnte sie lieben, begriff er; sie war die Art von Frau, nach der er sich sein ganzes
Leben gesehnt hatte, ohne es jemals zu wissen. Was war Angelica denn schließlich jemals anderes
gewesen als nur ein flüchtiger Traum? Luna dagegen war die Realität.
Schönheit, Intelligenz, künstlerisches Talent, Mut - doch was nützte all dies, wenn sie
starb?
Sie hatte recht; sie durften das bißchen Zeit, das ihnen noch verblieb, nicht vergeuden. Wenn sie
glücklich sein wollte, wenn sie feiern wollte - was feiern? - dann war es wohl das
Mindeste, daß er sie dabei unterstützte. »Wir machen uns eine schöne Nacht«, stimmte er zu und
bog nach links ab. Dann schlossen alle die Augen.
Es kam zu keinem Zusammenstoß. »Hier ist es«, verkündete Molly Malone.
Zane sah, daß sie sich einem Zeltkomplex näherten, der mit bunten Bannern geschmückt war. Laute,
recht schräge Musik dröhnte, und überall drängten sich Leute. Es war tatsächlich ein richtiger
Karneval.
»Diese Leute sehen aber alle recht lebendig aus«, bemerkte Zane.
»Für die Toten sehen die Toten lebendig aus«, erklärte Molly. »Aber ihr beiden seid die einzigen
lebenden Wesen hier. Laßt euch davon nicht den Spaß verderben.«
»Das werden wir schon nicht«, erwiderte Luna. »Ich habe Gespenster schon immer gemocht.«
Molly schritt auf den Kartenverkäufer zu. »Dies sind meine Gäste aus dem Land der Lebenden«,
sagte sie. »Der Tod hat mir vor gar nicht langer Zeit mal einen Gefallen getan, und die Frau wird
die Welt in zwanzig Jahren vor dem Satan retten. Gib ihnen Freikarten.«
»Das sind gute Referenzen«, stimmte der Kartenverkäufer zu und reichte ihnen die Karten.
Sie traten durch das altmodische Drehtor und kamen auf einen großen Platz. Zu beiden Seiten
standen zirkusartige Zelte mit Shows und Buden, die allerlei Tand verkauften. »Kommt schon«,
sagte Molly munter. »Am besten fangen wir mit der historischen Führung an.«
Luna ergriff Zanes Hand, als sie sich beide zur Abfahrtsstation der Rundfahrt ziehen ließen.
Schon bald saßen sie in einem offenen Wagen, der auf schmalen Schienen entlangfuhr.
Er setzte sich von alleine in Bewegung und führte sie durch einen wabernden Vorhang.
Plötzlich befanden sie sich in einer düsteren Höhle.
»Lascoux«, verkündete Molly. Offensichtlich war sie schon sehr oft hier gewesen. »Die berühmten
Höhlenmalereien.«
Während sie sprach, erhellte sich die Höhle wie von einer flackernden Fackel, und die Wände
leuchteten auf: eine Reihe wilder Tiere, die, obgleich sie etwas primitiv gemalt waren, beinahe
lebendig aussahen. »Das liegt an dem schimmernden Licht«, erklärte Molly. »Es verwandelt alles,
was wir sehen, so daß es aussieht, als würden die Bilder leben. Das ist das Genie dieser
Künstler.«
» Ist das Genie?« fragte Zane. »Ist das denn hier keine Nachahmung?«
»O nein!« protestierte Molly. »Das ist die wirkliche Höhle, ungefähr vierzehntausend vor
Christus. Wir sind die Gespenster!«
»Da wirkliche, buchstäbliche Zeitreisen ein wenig problematisch sind«, bemerkte Luna und knuffte
ihn. Zane legte ihr den Arm um die Schultern. Vielleicht hatte sie ja Zaubersteine verwendet, um
ihre Stimmung zu verbessern, dennoch blieb sie sie selbst. »Gespenster können hingehen, wo sie
hinwollen, ohne daß dies ein Paradox wäre.«
»Seht mal, da ist der Künstler, der das erste Einhorn gemalt hat«, sagte Molly fröhlich.
Zane erblickte eine anscheinend riesige Reihe primitiv gezeichneter Tiere, die sich über die
ganze Wand zog. Die meisten von ihnen glichen Pferden oder Rindern, und manche überschnitten sich
miteinander. Und doch wirkten diese Figuren im flackernden Licht der Sandsteinlampe, deren grober
Docht beinahe ebensoviel Rauch von sich gab wie Licht, wie eine dreidimensionale Herde, und die
einander überlagernden
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