Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
die Seelen nicht.«
»Wer sind Sie?« fragte die Frau in scharfem Ton. »Wenn das ein obszöner Anruf sein
sollte...«
»Ich bin der Tod.«
»Was?«
Natürlich konnte sie das nicht so leicht verdauen.
»Bitte, holen Sie jetzt Ginny.«
Von einem seltsamen Gefühl befangen, machte die Frau einen Rückzieher. »Ich werde nachsehen, ob
sie wach ist. Aber wenn Sie irgend etwas sagen sollten, was sie aufregen könnte...«
»Holen Sie sie«, wiederholte Zane müde. Wieviel Unheil doch gutmeinende Leute anrichteten!
Einen Augenblick später hörte er die Stimme des Kindes am Telefon: »Hier spricht Ginny«, sagte
sie höflich. »Oh, ich bin noch nie von einem fremden Mann angerufen worden!«
»Ich bin der Tod«, sagte Zane vorsichtig. »Ich habe deinen Brief erhalten.«
»Oh!« rief sie, doch er konnte nicht feststellen, ob es ein Ruf der Freude oder der Furcht
war.
»Ginny, ich glaube nicht, daß ich dich schon bald holen komme. Du hast noch dein Leben vor dir,
aber wenn ich komme, so verspreche ich dir, daß ich dich vorher wachmachen werde. Ich werde dich
nicht im Schlaf holen.«
Ihre Stimme bebte. »Oh... meinen Sie das wirklich ernst? Ganz echt?«
»Ganz echt. Du wirst nicht sterben, ohne vorher wach zu werden.« Soviel konnte er ihr wenigstens
versprechen. Er würde im Fegefeuer einen Aktenvermerk hinterlegen, um sicherzustellen, daß man
ihn persönlich zu ihr rufen würde, obwohl sie mit Sicherheit ohne Umwege direkt in den Himmel
kommen würde, weil sie nur sehr wenig Böses in ihrer Seele aufwies. So konnte er also seinem
Versprechen auch nachkommen.
»Und das meinen Sie wirklich ganz ehrlich?« wiederholte sie atemlos.
»Ganz ehrlich, Ginny. Schlafe in Frieden.«
»Oh, danke, Tod!« rief sie. Dann besann sie sich wieder auf ihre Manieren. »Ich möchte ja nicht
irgendwie Ihre Gefühle verletzen oder so, aber...«
»Aber du möchtest mir jetzt noch nicht unbedingt begegnen müssen«, beendete Zane lächelnd den
Satz für sie. »Ich verstehe, nur wenige Menschen möchten mit mir zu tun haben oder auch nur an
mich denken müssen.«
»Och, tagsüber ist das schon in Ordnung, wenn wir spielen«, erwiderte sie fröhlich. »Der Tag ist
anders. Da schlafen wir ja nicht. Beim Seilhüpfen sprechen wir auch über Sie.«
»Das macht ihr tatsächlich? Was sagt ihr denn da?«
»Doktor, Doktor, werde ich sterben? Ja, mein Kind, und ich werde erben! Dann kann man
besser im Takt bleiben, wissen Sie!«
»Das ist aber hübsch«, sagte Zane, etwas verdutzt. »Auf Wiedersehen, Ginny.«
»Tschüs, Tod«, sagte sie und legte auf.
»Na, fühlst du dich jetzt nicht besser?« fragte Luna, und ihre Augen leuchteten.
»Ja!« stimmte Zane zu. »Wenigstens dieses eine Mal bin ich froh über meinen Job.«
»Wenn mehr Leute den Tod persönlich kennen würden, würden sie sich auch weniger vor ihm
fürchten.«
»Das würde mir gefallen. Was wäre das doch für eine schöne Welt, wenn sich niemand vor dem Tod
fürchtete!«
»Und nun können wir ausgehen«, sagte sie. »Einen besseren Anfang hätte ich mir gar nicht wünschen
können.«
Sie kehrten zu dem Todesmobil zurück. »Wohin möchtest du denn gerne?« fragte er sie.
»Ich weiß es nicht. Mir genügt es eigentlich, mit dem Tod einen Ausflug zu machen.«
Das befriedigte Zane zwar nicht völlig, doch er ließ es dabei bewenden. Er startete den Wagen und
lenkte ihn langsam durch den Nieselregen.
In der Stadtmitte erblickten sie im Licht der Scheinwerfer eine Gestalt mit einer Schubkarre.
Zane drosselte das Tempo.
»Da ist ja Molly Malone«, sagte er. »Das Gespenst von Kilvarough.«
»Oh, die habe ich noch nie kennengelernt!« rief Luna. »Nehmen wir sie doch mit!«
»Ein Gespenst mitnehmen? Das geht doch gar nicht...«
»Woher wollen wir das wissen, wenn wir es nicht einmal versuchen.«
Zane hielt an und stieg aus dem Wagen. »Molly!« rief er.
Das Gespenst winkte. »Mich kannst du nicht mehr holen, Tod«, rief Molly fröhlich. »Ich bin
nämlich schon tot!«
»Ich bin nicht im Dienst«, bemerkte er. »Ich habe meine Uhr angehalten. Wir sind uns schon einmal
begegnet, bevor ich dieses Amt übernahm. Ich glaube sogar, daß du mein Omen warst, denn kurz
nachdem ich dir begegnet bin, habe ich mein früheres Leben verlassen.« Er zog seine Kapuze
beiseite, damit sie sein Gesicht erkennen konnte.
»Ach ja - du hast mich davor gerettet, ausgeraubt zu werden, oder sogar vor noch etwas
Schlimmerem«, sagte sie, als sie ihn wiedererkannte. »Du warst so nett zu mir. Es tut mir
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