Inkarnationen 02 - Der Sand der Zeit - V3
mehr Muskeln als Sie, aber der Körperbau ist der gleiche.«
Norton mußte einsehen, daß er keine Wahl hatte. Mit Hilfe des Gespenstes legte er Hose, Hemd,
Pantoffeln und einen eleganten Umhang an. Alles war von feinstem Tuche und wohlgeschneidert, und
zudem mit kleinen goldenen Drachen bestickt. »Sie sind wirklich reich, was!« brummte
er.
»Ganz bestimmt«, meinte Gawain. »Ich gehöre zwar nicht zu den Fünfhundert, aber ich war immerhin
Kandidat für die Aufnahme. Wenn ich lange genug gelebt hätte...« Das Gespenst brach nachdenklich
ab.
»Meinem Sohn wird es an materiellen Gütern nie fehlen. Er wird sich einen Senatorensitz erkaufen
können, wenn er will. Wie man so hört, soll die Politik wesentlich lukrativer sein als die
Drachenjagd.«
»Schön für Ihr Kind«, meinte Norton kurz angebunden. »Ich bin mir nicht sicher, daß ich es für
Sie zeugen werde.«
»Orlene wird Sie nicht gehen lassen«, warnte das Gespenst. »Sie weiß, daß Sie der Richtige
sind.«
»Wie will sie mich daran hindern, fortzugehen?«
Gawain schürzte die Lippen. »Sie müssen wohl noch einiges über die Schliche der Frauen
lernen!«
Wortlos verließ Norton den Raum, um Orlene Gesellschaft zu leisten.
Sie hatte das Frühstück vorbereitet: hellgrüne Pfannkuchen, frisch von der venusischen Pilzfarm,
und etwas, das wie echter Bienenhonig aussah. Das paßte.
Er mußte lächeln, und seine Laune besserte sich. Er setzte sich zu ihr an den gemütlichen
Eßtisch.
Plötzlich wirkte alles sehr behaglich. Er war nie ein häuslicher Typ gewesen, aber im Augenblick
war es sehr schön. Orlene sah in ihrem grünen Hausmantel sehr anziehend aus, das Haar mit einem
scharlachroten Band zurückgebunden. Grüner Mantel, honigfarbenes Haar, passend zu den Pfannkuchen
und dem Honig: ob sie das etwa unbewußt tat? Aber das Haarband...
»Scharlachrot? Sie wissen doch, daß es da so ein altes Lied über scharlachrote Bänder
gibt...«
»Ja«, meinte sie. »Ich werde es Ihnen nach dem Frühstück vorspielen.«
»Sie haben es auf Tonband?«
Sie lächelte vieldeutig. »Nein.«
Nach dem Frühstück führte sie ihn in ein weiteres Zimmer. Dort befand sich ein Miniflügel. Sie
nahm daran Platz und begann auf wunderschöne Weise zu spielen.
»Wie sind Sie denn zu so einem Talent gekommen?« fragte er beeindruckt, als sie das Stück beendet
hatte.
»Das ist kein Talent. Ich habe geübt, seit ich sechs war, und seitdem ich verheiratet bin, auch
wieder. Es hilft, die Zeit zu vertreiben; wenn ich spiele, fühle ich mich nicht mehr ganz so
einsam. Außerdem sind musikalische Fähigkeiten bei Debütantinnen Mode.«
»Sie waren Debütantin? Wie sind Sie denn dann in... hierher geraten?«
»Die Gespensterehe? Meine Familie hat es in die Wege geleitet, aber ich hatte auch nichts
dagegen. Gawains Familie hat wirklich gute Beziehungen, und ich wollte das Beste für meine
Kinder. Dies war die beste Ehe, die ich eingehen konnte.«
»Aber mit einem Toten!«
»Nun, ein Gespenst verlangt nicht allzu viel von einem Mädchen. Ich sehe die Sache so, als wäre
ich sehr früh Witwe geworden, nur daß da keine Trauer ist. Ich kannte ihn ja nie lebendig.«
»Aber um... Sie müssen...«
»Ich wollte schon immer eine Familie haben. Das wäre nicht anders, wenn er lebte.«
»Wenn er lebte, hätten Sie gewußt, was Sie bekommen. Aber so...«
»Das weiß ich auch jetzt«, erwiderte sie. »Auf diese Weise hatte ich immerhin eine Wahl. Den
bestmöglichen Vater meiner Kinder, unabhängig von den Zufällen der Herkunft oder des
Reichtums.«
»Das Leuchten? Ehrlich gesagt, bezweifle ich...«
Sie zog eine hübsche Grimasse. »Wenn Sie mir beweisen, daß das Gespenst existiert, beweise ich
Ihnen das gleiche über das Leuchten.«
»Warum geben Sie mir nicht einfach meine eigenen Kleider zurück, damit ich gehen kann? Dann
braucht keiner von uns etwas zu beweisen.«
»Wollen Sie wirklich gehen?«
»Nein. Deshalb sollte ich es wohl besser tun.«
»Und dann lästert man über weibliche Logik!«
Er mußte lächeln. »Ich versuche, das Richtige zu tun, so wie ich es sehe, wenngleich ich zugeben
muß, daß ich es im Augenblick nicht sehr deutlich erkennen kann. Es würde mir allzu leicht
fallen, Sie allzu sehr zu mögen. Ich glaube nicht, daß ich deswegen hier bin.«
»Mich allzu sehr zu mögen, um was?«
»Um Sie zu lieben und Sie dann zu verlassen.«
Sie schwieg einen Augenblick, und er fürchtete schon, daß er allzu direkt gesprochen hätte. Sie
hatte ein Gespenst
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