Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
die den Gang versperrte. Da es keinen Weg gab,
wußte sie, daß es sich um eine Illusion handelte. Satan hatte gewollt, daß sie diesen Weg
weiterging, nachdem sie einen Faden verschwendet hatte, vielleicht in der Hoffnung, daß sie
tatsächlich von dem Turm springen würde. Sie nahm ihren Mut zusammen und marschierte durch das
Ungeheuer hin durch. Illusion Nummer acht.
Nun gelangte sie an eine Wendeltreppe. Das paßte zum Schlangenthema. Sie mußte zugeben, daß Satan
über ein gewisses künstlerisches Talent verfügte. Doch natürlich konnte man jede Kunst als eine
Form der Lüge begreifen, weil sie von der Realität abwich: Und das war nun einmal das
Spezialgebiet des Vaters der Lüge.
Niobe schritt die Treppe empor und prüfte jede Stufe, ob sie wirklich war oder nicht, um nicht in
die Tiefe zu stürzen. Dazu bedurfte sie keiner Fäden. Bald war sie oben an der Turmspitze
angelangt. Die war von Glas eingerahmt, das den Ausblick auf die Umgebung verzerrte. Also mußte
sie hinaus auf das Sprungbrett, um alles deutlich sehen zu können.
Sie trat hinaus und erlitt einen Anfall von Höhenangst. Das Brett befand sich ungefähr fünfzehn
Fuß oberhalb der Mauern des Labyrinths und fünfundzwanzig Fuß über dem Boden. Es gab unter ihrem
Gewicht leicht nach, und sie geriet ins Zittern.
Sie war noch nie eine überzeugte Wasserspringerin gewesen, und in dieser Situation schon gar
nicht. Sie erinnerte sich daran, daß sie tapferer gewesen war, als sie die scheinbare Schlucht in
der Höhle des Bergkönigs überquert hatte, vielleicht nahm also ihr Mut mit zunehmendem Alter ab.
Sie kroch zum Ende des Sprungbretts, um über seinen Rand zu spähen.
Unter ihr befand sich eine freie Fläche. Darauf lagen fünf riesige Kissen, und jedes war so
flauschig, daß sie scheinbar selbst aus dieser Höhe gefahrlos herunterspringen konnte, ohne sich
zu verletzen. Doch einige dieser Kissen mochten vielleicht Illusionen sein, so daß sie den Sprung
nicht riskieren konnte, ohne wenigstens einen Faden zu verbrauchen.
Außerdem, so erkannte sie, konnte es sich auch um eine Falle handeln. Selbst wenn sie ein echtes
Kissen ausmachte und darauf sicher landete, mochte sie danach vielleicht feststellen, daß sie
sich schon wieder in einer Sackgasse befand. Und wie würde sie dann zu ihrem Ausgangspunkt
zurückgelangen? Sie konnte deutlich erkennen, daß von diesem Ort kein Weg zum Fuße des Turms
führte. Es wäre also ein Sprung, ohne die Möglichkeit zurückzukehren.
Natürlich konnte sie einen Faden verwenden, um wieder zum Sprungbrett emporzuschweben doch das
würde sie wieder zurückwerfen. Jeder Faden, den sie verwendete, ohne eine Illusion damit zu
vertreiben, war ein Verlust für sie.
Aber sie war ja auch nicht gekommen, um zu springen, sondern nur, um das Labyrinth zu
überblicken. Auf diesem Pfad hatte sie keine Fäden verbraucht, sie war also im Begriff, Punkte zu
gewinnen. Niobe entschloß sich, davon auszugehen, daß zwei der fünf Kissen Illusionen waren, und
zwar die beiden nächsten. Wenn sie ihre Fäden verwendet hätte, um ihren Landeplatz zu überprüfen,
hätte sie das einige mehr gekostet, nur um diese Sackgasse zu erkunden. Langsam lernte sie, die
Chancen richtig einzuschätzen.
Nun konzentrierte sie sich auf das restliche Labyrinth. Es war gar nicht so groß, wie es von
unten geschienen hatte; nur die Kurven und Windungen ließen die Strecke länger erscheinen. Sie
verfolgte den Pfad des ersten Ganges, den sie versucht hatte, um sicherzugehen, daß sie auch
wußte, auf welchem Weg sie war. Dann verfolgte sie den Pfad zum Turm. Gut, den konnte sie von
hier oben deutlich erkennen.
Mit größter Sorgfalt verfolgte sie nun die drei anderen Pfade. Alle wiesen mehrere Gabelungen
auf, doch die meisten endeten sofort hinter den Ungeheuern in Sackgassen. Offensichtlich waren
sie dazu gedacht, den Anschein zu erwecken, weiterzuführen, damit sie die Ungeheuer
herausforderte und mindestens ein oder zwei Fäden dabei vergeudete. Ein Pfad wand sich in einer
Schlaufe in einen anderen hinein, so daß sie ihn zwar hätte durchqueren können, doch nur, um sich
schließlich an ihrem Ausgangspunkt wiederzufinden, möglicherweise um einige Fäden ärmer.
Ein Pfad jedoch führte durch das ganze Labyrinth, mit drei verschiedenen Abspaltungen und
Neuverbindungen, um schließlich in einem Loch zu enden, das sich in einer undurchsichtigen Mauer
befand. Das war offensichtlich der richtige. Dort waren insgesamt
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