Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
einfach dadurch durchqueren konnte,
daß sie den sichtbaren Ungeheuern aus dem Weg ging. Ein illusionäres Ungeheuer konnte den
Anschein erwecken, den wahren Durchgang zu blockieren, während es sie in Wirklichkeit zu echten
Ungeheuern und damit auch in Schwierigkeiten lockte.
Hier waren fünf Ausgänge. Es ergab keinen Sinn, mehrere Illusionen in einem Gang aufzubauen,
sofern der Eingang von einem wirklichen Ungeheuer blockiert wurde. An dem Ungeheuer konnte sie
nicht vorbei, so daß sie nie von den Illusionen dahinter genarrt werden konnte. Also mußten die
Illusionen entweder früh auftreten oder auf dem richtigen Weg.
Alle fünf Ungeheuer an diesem Punkt mußten Illusionen sein. Das war das einzige Muster, das einen
Sinn ergab. Kein Wunder, daß sie die erste Illusion, die sie herausgefordert hatte, ausgerechnet
hier entlarvt hatte! Sie hätte sich den Faden sparen können.
Da Satans Illusionen zahlenmäßig begrenzt waren, konnte er in jedem Labyrinthabschnitt auch nur
eine begrenzte Anzahl von ihnen einsetzen. In dem Kristallabschnitt hatte sie nur eine entdeckt,
die strategisch placiert gewesen war. Möglicherweise war dies dort auch die einzige. Vielleicht
waren neun von zehn Ungeheuern echt, denn in der Hölle waren Ungeheuer leicht zu bekommen. In der
sterblichen Welt waren Illusionen billiger als Dämonen, doch hier in der Hölle verhielt es sich
umgekehrt. Deshalb waren die Chancen recht groß, daß die Ungeheuer, die hinter dem Anfang eines
Gangs lagen, zum größten Teil echt waren. Wenn ein Gang sich in zehn verschiedene Wege gabelte,
würden neun von ihnen durch echte Ungeheuer blockiert sein, während nur derjenige, der
tatsächlich weiterführte, von einer Illusion bewacht wurde. Ob sie nun willkürlich alles aufs
Spiel setzte oder die Sache überprüfte, auf jeden Fall sahen die Chancen für sie so aus, daß sie
neun Fäden verlieren würde. Deshalb war sie auch ins Hintertreffen geraten; denn sie hatte die
Strategie Satans nicht durchschaut.
Sie mußte herausfinden, wie das Gesamtlabyrinth aufgebaut sein mochte, um den Weg zu wählen, der am wahrscheinlichsten Illusionen enthielt. Denn die falschen Wege würden zum größten Teil
von echten Ungeheuern blockiert sein.
Doch wie sollte sie das Labyrinth analysieren, da sie es doch nicht überblicken konnte? Auch wenn
die Wände aus Glas waren, offenbarten sie ihr dennoch nicht, wie die Gesamtstruktur aussah.
Sie mochte zwar viele Ungeheuer sehen, nicht aber die verworrenen Wege des Labyrinths.
Niobe hob den Kopf und erblickte einen Turm, der sich über die Gänge erhob. Der größte Teil des
Labyrinths schien offen zu sein, doch die Mauern waren nicht nur viel zu hoch, als daß sie sie
hätte erreichen können, ihre Spitzen sahen zudem auch noch messerscharf aus. Sie konnte sie nicht
erklimmen. An dem Turm befand sich ein kurzes Sprungbrett. Wohin sollte sie von dort aus
springen? Etwa in die Illusion eines Sees? Sie wußte, daß sie einen Sprung nicht riskieren
konnte, denn es würde sie mindestens zwei Fäden kosten.
Aber der Turm war sehr hoch. Von dort oben würde sie möglicherweise die Anlage des gesamten
Labyrinths überschauen können. Wenn dem so sein sollte, so war es ein Punkt, den zu erklettern
sich lohnte, auch wenn er nicht zum eigentlichen, richtigen Weg führte.
Sie suchte sich einen Zugang aus, der am wahrscheinlichsten zum Turm führen würde, und schritt
durch das Ungeheuer hindurch, das ihn bewachte, nämlich die frauenköpfige Schlange. Das Ungeheuer
zischte sie an, konnte sie jedoch nicht berühren. Es war, wie sie vermutet hatte, eine Illusion.
Sie hatte einen Faden gespart; genaugenommen sogar vier, denn alle diese Ungeheuer mußten
Illusionen sein. Indem sie einfach innegehalten und nachgedacht hatte, hatte sie den Spielstand
auf neun zu sieben verändert, denn nachdem sie eine Illusion erst einmal identifiziert hatte,
brauchte sie darauf keinen Faden mehr zu vergeuden. Diese Illusionen waren an ihren Standort
gebunden, sie konnten ihr nicht folgen. Niobe konnte also alle abhaken, derer sie sich sicher
war, und je mehr sie durch geistiges Kombinieren ausmachte, um so besser stand sie da. Sie
spürte, wie sie zu zittern begann, als die Spannung von ihr wich. Indem sie sich »blind« an das
Ungeheuer gewagt hatte, hatte sie nicht nur ihre Fäden gerettet, sondern außerdem noch ihre
Situationsanalyse bestätigt.
Wenn sie sich geirrt hätte...
Nun erblickte sie eine schlangenköpfige Frau,
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