Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
irgend jemand und versperrte ihr den Pfad, wo doch niemand hier
etwas zu suchen hatte!
»Ich sehe, daß du überrascht bist, Liebchen«, sagte die Gestalt. Ihre Umrisse waren unscharf,
dennoch kamen sie ihr vertraut vor.
»Hier... darf sich niemand aufhalten«, sie geriet ins Stocken. »Außer Mars und Gäa oder...«
»Oder Satan«, schloß die Gestalt. »Wo Gott hin darf, da darf auch seine Nemesis hin.«
Ihr ganzer Körper versteifte sich. Dies war der Fürst des Bösen der ihren Tod geplant hatte! Den
sie zu bestrafen gedachte irgendwie. »Ich hasse dich!« rief sie.
Die Gestalt lachte. »Aber natürlich, du wunderhübsche Kreatur! Ich bin die Inkarnation alles
Bösen, und der Haß ist sicherlich nicht das geringste Böse! Schon begibst du dich in meine
Einflußsphäre!«
Das ließ sie innehalten. Es stimmte; wenn sie sich dem Haß hingab, kam sie Satan dadurch näher,
auch wenn es Satan selbst war, den sie haßte. Eine äußerst heimtückische Situation! Sie konnte es
sich wirklich nicht erlauben, ihn zu hassen.
Niedergeschlagen begriff sie, daß Satan schon bei ihrer ersten Begegnung den ersten Erfolg
davongetragen hatte. Er war nun im Vorteil.
»Was tust du hier?«
»Ich mußte einige Dinge klären, Süße, da wir in Zukunft zweifellos werden zusammenarbeiten
müssen.«
Sie konnte sich nicht beherrschen. »Warum klärst du dann nicht zuerst einmal, warum du meinen
Mann umgebracht hast?«
»Aus diesem Grund bin ich doch hierher gekommen, mein Täubchen«, meinte Satan. »Mir ist bekannt,
daß du die Sache wohl ein wenig mißverstanden hast, und es ist nicht angebracht, daß zwischen den
Inkarnationen Verwirrung besteht.«
»Ich habe überhaupt nichts mißverstanden! Du hast dich in mein Leben eingemischt!«
»Aber gar nicht, hübsche Rose! Ich habe mich auf das Böse spezialisiert; seine Arbeitsweise
verstehe ich besser als jedes andere Wesen. Das Böse ist überall, in größerem oder kleinerem
Umfang, nur nicht vielleicht in Gott, der, ehrlich gesagt, in diesem Punkt recht naiv ist. Laß
mich dir das Böse zeigen, das den anderen Inkarnationen innewohnt.«
Niobe eilte den Pfad entlang und stach mit ihrem Spinnrocken nach Satan, um ihn fortzuschieben.
Doch der schwebte einfach beiseite, ohne die Beine zu bewegen. Sie konnte sich ihm nicht
entziehen. »Ich... das höre ich mir nicht an!« rief sie. »Die anderen Inkarnationen sind nicht
böse!«
»Böse ist, wer Böses tut, meine Liebe«, sagte Satan. »Angefangen bei deinem verschmutzten Faden
lauert das Böse in jedem sterblichen Wesen, und Inkarnation zu sein, bedeutet noch lange nicht,
es aus sich zu vertreiben.«
»Verschmutzter Faden!« rief Niobe empört. »Den habe ich gerade aus der allerreinsten Essenz der
Leere geholt!«
»Reinheit existiert nicht in der Leere, meine Schöne«, sagte Satan. »Nur das Chaos. Was du da
hast, ist tatsächlich die reine Entropie - das heißt, die völlige Unordnung. Wenn du sie spinnst,
zwingst du ihr Ordnung auf - deine eigene Ordnung -, und zwar dem reinsten Chaos, das du nur
bekommen kannst. Das liegt daran, daß du seine Ordnung voll und ganz bestimmen willst, ohne daß
die Ordnung irgendeiner anderen Quelle sie befleckt. Doch weil das Chaos bereits vollständig ist, schließt es nichts aus, nicht einmal einen Fleck aus Ordnung. Ach, du
Herzallerliebste, du arbeitest zwangsläufig mit unvollkommenem Material. Tatsächlich ist es diese
Befleckung der Ordnung, die es dir überhaupt ermöglicht, es zu spinnen. Ohne diese würdest du sie
überhaupt nicht in den Griff bekommen. Aber das ist nur ein Teil der Sache. Diese Substanz ist
eine Mischung aus Gutem, Neutralem und Bösem, und es ist unmöglich vorherzusagen, was sich davon
am Ende durchsetzen wird.
Aus diesem Grund lassen wir es den entscheidenden Test durchlaufen: den freien Willen des
Lebens.«
Niobe versuchte zwar, nicht hinzuhören, doch es gelang ihr nicht. Die Stimme des Bösen war auf
sehr hinterhältige Weise verlockend. »Ich spinne diesen Faden für das Leben!«
»Genau, mein Liebling. Belebter freier Wille - auch als Leben bekannt. Nachdem jedes Teilchen
dieser Seelensubstanz seinen Lauf genommen hat, wird das individuelle Verhältnis zwischen Gut und
Böse erkannt, und so entsteht schließlich Ordnung. Irgendwann wird auch der letzte Teil Leere
verarbeitet worden sein, dann wird die Entropie des Universums auf Null reduziert sein. Alles
Gute wird sich im Himmel befinden und alles Böse in der Hölle. Dann ist die
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