Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
aus dem Wasser!« rief Niobe Luna zu. »Ich werde sie retten!« Sie nahm einen tiefen Atemzug,
schloß die Augen und tauchte unter dem Zaun durch. Lunas Geplansche war ihr ein Wegweiser, sie
ortete das Kind, bekam es zu packen und zerrte es im Rettungsschwimmergriff weiter. Niobe mußte
sich darauf verlassen, daß ihr Orientierungssinn sie nicht täuschte und sie tatsächlich ans
andere Ufer schwamm. Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen oder ihrer Tochter etwas zu sagen;
mit Sicherheit wären dann einige Wasserspritzer in Augen oder Mund eingedrungen. Sie hatte
keinerlei Ahnung, wie nah das Ungeheuer war, sie mußten einfach in Bewegung bleiben.
Sie schaffte es. Sie kam ans Ufer und zerrte Orb aus dem Wasser. Dann fuhr sie sich über die
Augen, um schließlich das Mädchen an den Schultern zu packen und durchzuschütteln, um seine
Aufmerksamkeit zu erregen. »Sei still, Orb! Du hast etwas Wasser vom Fluß Lethe abbekommen,
deshalb kannst du weder sehen noch dich an irgend etwas erinnern, aber diese Wirkung hält nur
vorübergehend an. Schon bald wirst du wieder sehen können und dich an alles erinnern. Beruhige
dich einfach. Beruhige dich!«
Langsam wurde das Mädchen wieder ruhig. »Ach, Mutter«, rief es und schlang die Arme um Niobe.
»Ich habe ja solche Angst!« Also erinnerte sie sich immerhin daran, in welchem
Verwandtschaftsverhältnis sie zueinander standen.
Wahrscheinlich hatte sie nur die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse verloren.
»Es geht schon vorbei«, versicherte Niobe ihr. »Du hast dir nicht weh getan, du bist nur für
wenige Minuten ein bißchen außer Gefecht. Setz dich einfach hier hin und beweg dich nicht.« Dann
blickte sie über den Fluß. Luna stand am anderen Ufer. »Bist du in Ordnung, Luna?«
»Ich bin in Ordnung«, erwiderte das Mädchen rufend. »Soll ich jetzt hinüberschwimmen?«
Niobe dachte kurz nach. »Nein, geh mal in die andere Höhle und sieh nach, ob die auch wieder
aktiviert worden ist. Aber versuche nicht, sie zu überqueren!«
»Das würde ich auch gar nicht wagen!« sagte Luna ernst. Sie verschwand im Gang.
Orbs Tränen schienen den Zauber aus ihren Augen zu vertreiben. »Mutter! Ich kann schon wieder
etwas sehen!«
»Ja, natürlich, mein Liebes«, sagte Niobe und tat zuversichtlicher, als es der Fall war. »Du
brauchst nur etwas Geduld, dann bist du schon bald wieder ganz normal.«
Nach einer Weile, die Niobe viel länger vorkam, als sie in Wirklichkeit war, kehrte Luna zurück.
»Die Höhle ist wieder aktiviert«, meldete sie. »Ich habe mich am Rand hingekniet und die Hand
ausgestreckt und konnte den Boden nicht berühren. Dann ist die Fledermaus gekommen, und ich bin
weggelaufen.«
Wie war die Illusion der Schlucht nur Wirklichkeit geworden? fragte sich Niobe. Ein Sturz von
achtzehn Zoll konnte doch keinen Sturz von hundert Fuß Tiefe imitieren. Doch nun war sie sicher,
daß die Schlucht tatsächlich bestand. Die Magie des Bergkönigs war keine bloße Illusion.
»Dann solltest du besser auf diese Seite kommen«, entschied Niobe. »Für dich ist es leichter als
für Orb, und ich glaube, daß wir gemeinsam die Minenhöhle besser durchqueren können.«
»Was ist passiert?« fragte Orb, während Luna herüberschwamm. Offensichtlich waren die letzten
Minuten immer noch aus ihrem Gedächtnis ausgelöscht.
»Wir wollten gerade den Fluß überqueren, da wurde die Magie wieder wirksam«, erklärte Niobe. »Ich
weiß auch nicht, warum. Es ist ganz so, als würde man uns plötzlich für Diebe halten, anstatt für
würdige Sieger.«
»Aber wir sind doch gar keine Diebe!« protestierte Orb.
»Natürlich sind wir das nicht!« Dann fiel ihr etwas ein. »Aber vielleicht gibt es hier drinnen
noch irgendeinen Dieb, der die Magie ausgelöst hat und nun hat es uns auch erwischt.«
»Aber wir haben doch niemanden gesehen!«
»Das stimmt.« Niobe seufzte. Es wäre eine so schöne Erklärung gewesen. Dann fiel ihr eine andere
Möglichkeit ein. »Vielleicht hat einer versucht, die erste Herausforderung zu meistern, und hat
dabei mehr als eine Mine ausgelöst, ohne danach aufzugeben. Das könnte die Sache erklären.«
Luna kam aus dem Wasser. »Ich habe sie!« rief sie und schwenkte die Harfe. »Ich habe den Grund
danach abgefühlt und sie gefunden!«
»Ach, danke, Nachtfalter!« rief Orb.
»Ist schon in Ordnung, Augapfel«, erwiderte Luna und reichte ihr lächelnd das Instrument.
Niobe war ein wenig erschrocken. Diese Spitznamen hatte sie noch nie
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