Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
angekommen, konnte Luna sich wieder aufrichten. Es war ihr nichts
geschehen.
»Du bist dran, Orb«, rief Niobe. »Schaffst du es allein, oder soll ich rüberkommen, um dir zu
helfen?«
Orb musterte die hin und her schwingende Brücke und die schwebende Fledermaus. »Ich... vielleicht
kommst du doch besser.«
Niobe schritt zurück und hielt die Fledermaus mit einem bloßen Blick auf Distanz. Das Wesen hatte
den Unterschied zwischen einem verängstigten Mädchen und einer kämpferischen Frau inzwischen gut
erkannt.
»Also gut... geh vor mir her. Ich sichere deinen Rücken. Konzentriere dich einfach auf Luna dort
drüben, und behalte dein Gleichgewicht. Es ist gar nicht schwer.«
»Wieso bist du nur so tapfer?« fragte das Mädchen.
»Ich bin eine Mutter. Das kommt dann von alleine.«
Es war zwar eigentlich ein Scherz, doch Orb nahm die Antwort ernst. »Ein Kind zu bekommen, macht
tapfer?«
»Wenn du etwas hast, für das du sterben würdest, um es zu beschützen, ist das keine Frage des
Mutes mehr«, erklärte Niobe. »Dann weißt du einfach, was du tun mußt, und kannst dir keine Angst
leisten.«
Sie schritten über die Brücke. Die Fledermaus kam auf sie zu, und Orb duckte sich zaghaft.
»Hau ab!« schrie Niobe das Untier an. »Sonst ramme ich dir diesen Stab hier in den Hals,
Federhirn!«
Das Wesen machte noch im Flug kehrt und floh. Offensichtlich konnte man selbst Illusionen
einschüchtern!
»Warum hat sie Angst vor dir?« fragte Orb erstaunt.
»Weil ich nicht geblufft habe«, erwiderte Niobe. »Ich werde ihr sofort den Hals umdrehen, wenn
sie dich auch nur berührt, und das weiß sie auch.«
»Ach, Mutter!«
»Das täten alle Eltern. Du wirst es auch tun, wenn du erst mal Mutter bist.«
Sie schafften es auf die andere Seite. Luna schüttelte den Kopf. »Du hast uns jedesmal aus der
Klemme helfen müssen, Großmutter. Allein hätten wir es nie geschafft.«
»Das hier ist eine gemeinsame Anstrengung. Aber ich glaube, eure Instrumente müßt ihr schon
allein gewinnen.« Sie schritten in die nächste Höhlenkammer. Dort standen zwei Vitrinen. In der
einen befand sich ein Pinsel mit silbernem Griff, in der anderen eine winzige goldene
Harfe.
»Da sind wir«, meinte Niobe. »Das sind eure Instrumente.«
»Aber...«, sagte Luna. »Wie sollen wir...?« Niobe sah sich um. Es war nirgendwo ein Schild mit
Instruktionen zu sehen. »Ich schätze, das müßt ihr wohl selbst herausbekommen.«
Luna zuckte die Schultern. Sie nahm den Pinsel, fuhr damit durch die Luft worauf dieser in der
Luft einen gelben Streifen zurückließ, der völlig frei schwebte.
Überrascht bewegte sie den Pinsel erneut und machte ein X durch den Strich. Da erschien schwarz
ein großes X in der Luft.
»Die Farben werden durch die Gedanken bestimmt!« rief Luna erfreut.
Nun machte sie sich ernsthaft ans Werk, entfernte den Farbstreifen und das X mit geschickten
Pinselstrichen und malte ein Bild von Niobe. So jung sie auch war, war Luna eine gute Malerin; es
war eine beachtenswert genaue Wiedergabe. Niobe hatte das Mädchen noch nie so schnell und so gut
malen sehen. Natürlich war sie nicht allzu erbaut davon, im körperlichen Alter von
sechsunddreißig nackt gemalt zu werden; sie hatte etwas Gewicht angesetzt und war sicherlich
nicht mehr die schönste Frau der Welt. Und die Schwangerschaftsstreifen von Orbs Geburt waren
auch nicht eben schmeichelhaft. Doch war sie nicht in der Lage zu protestieren. Denn sie wollte,
daß Luna gut genug malte, um zur Belohnung den Pinsel zu bekommen. Es war ganz offensichtlich ein
ideales Instrument. Dann fügte Luna dem Porträt eine Art Heiligenschein aus beinahe farbloser
Farbe, hinzu, der durchsichtig schimmerte.
»Was tust du da?« fragte Niobe.
»Ich male deine Aura«, erklärte Luna.
»Meine...?«
»Ich kann sie sehen, deshalb male ich sie auch.«
Niobe verstummte. Wenn das stimmte, hatte das Mädchen mehr Talent, als man bisher erkannt
hatte.
Luna hielt inne und wich einen Schritt zurück. »So«, sagte sie. Sie hatte eine riesige Muschel
gemalt, die die Figur zum Teil umhüllte. »Nackte Großmutter auf der Halbmuschel.«
»Meine Güte!« rief Niobe in gespielter Verärgerung, und Orb kicherte.
Dann bewegte sich das Bild in der Luft. Es legte sich schräg, bekam einen Rahmen und schwebte in
die Vitrine, deren Glastüren sich hinter ihm schlossen.
»Ich glaube, dein Bild ist angenommen worden«, sagte Niobe. »Du hast dir den Pinsel
verdient.«
»Ach, wie schön!« rief Luna. »Danke
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