Inkarnationen 05 - Sing ein Lied fuer Satan - V3
Nomadenleben aufgab. Nun hätte das,
wie jeder weiß, die Zigeunerin an Gram zugrunde gehen lassen. Denn wir Sinti ertragen es nicht,
in vier Wänden eingesperrt zu sein. Das Mädchen steckte also in einem wirklichen Dilemma. Denn
sie wußte, sie würde sterben, wenn sie den Prinzen nicht für sich gewinnen konnte. Eines Tages
dann marschierte sie vor seine Burg und stellte sich vor den Turm, auf dem er stand. Dann sang
sie ihm ein Stück vom Llano vor. Nach einer kurzen Weile ritt er auf seinem schönsten Roß zum
Burgtor hinaus, hob die junge Frau auf seinen Sattel und begab sich mit ihr zu ihrem Stamm, wo er
sie heiratete und sich unserem Volk anschloß. Und die Macht dieses Llano-Stücks war so groß, daß
ihre Liebe bis ans Ende ihrer Tage währte.«
Orb hörte wie verzaubert zu. Was für ein gewaltiges Lied mußte das Llano sein!
Dann trat ein alter Mann vor. »Ich kenne auch eine Geschichte über das Llano. Ein Sinti-Mann
wurde von den anderen gefangengenommen und sollte wegen Diebstahls gehängt werden. Dabei hatte er
nichts anderes getan als das, was die Art unseres Volks ist. Er mußte erkennen, daß sie nicht
verstehen wollten, so oft er ihnen auch erklärte, er habe das Brot nur gestohlen, um damit seine
Familie zu ernähren. Als er glaubte, sein letztes Stündlein habe geschlagen, erinnerte er sich
eines Teils des Llanos, das er vor Jahren einmal gehört hatte. Als sie ihm die Schlinge um den
Hals legten, sang er diese Melodie. Und es dauerte nicht lange, da nahmen sie ihm die Schlinge
wieder ab, setzten ihn frei und bedachten ihn auch noch mit Geldgeschenken; denn so gewaltig ist
die Macht des Llanos über die Menschen.«
Orb war auch von dieser Geschichte begeistert.
Sie fragte sich, ob das Llano auch mächtig genug war, sie vor der Bestrafung durch die Eltern zu
schützen, wenn sie etwas ausgefressen hatte.
Nun meldete sich ein Kind. »Auch ich habe eine Geschichte über das Llano gehört. Ein Junge in
meinem Alter sammelte einmal im Wald Beeren, als ein wildes Tier erschien und leichte Beute
witterte. Der Junge erschrak zu Tode, und in der höchsten Not fiel ihm ein Stück vom Llano wieder
ein, das er einmal gehört hatte. Er sang es, und das wilde Tier legte sich vor ihm auf den Bauch
und leckte ihm die Füße. Von der Zeit an war es sein Schoßtier; denn so mächtig ist das
Llano.«
Wie faszinierend, ein wildes Tier mit dem Llano zu zähmen, dachte Orb.
Der Anführer ließ seinen Blick über den Stamm schweifen, doch niemand sonst trat vor. »Es sieht
so aus, als wäre das alles, was wir über das Llano wissen«, erklärte er. »Das war nicht sehr
viel. Wenn wir wüßten, wo dieses Lied zu finden ist, wären wir nicht hier im Sumpf, sondern
hätten uns längst auf die Suche gemacht. Wenn du, kleines Mädchen, das Lied des Morgens vernehmen
kannst, ist es dir vielleicht eines Tages möglich, das Llano zu finden.«
»Ich danke euch dafür«, sagte Orb. Die Dryade machtet keine Einwände mehr, und so zogen die
Zigeuner weiter.
»Sind diese Geschichten alle wahr gewesen?« fragte Luna, als sie wieder zu dritt im Baum saßen.
»Es könnte doch sein, daß die Zigeuner sie sich nur ausgedacht haben.«
»Sie haben sie gehört«, erklärte die Nymphe, und Orb mußte Luna wieder ins Bild setzen. »Die
ursprünglichen Geschichten stammen wahrscheinlich aus einer Zeit vor den Zigeunern, doch ich
könnte mir vorstellen, daß sie sich wirklich so oder so ähnlich zugetragen haben. Auch ich habe
vom Llano gehört und weiß, daß es wirklich die wunderbarste Musik der Welt ist. Wenn wir
Hamadryaden dieses Lied besitzen würden, könnten wir unsere Bäume erfolgreich vor den Menschen
schützen.«
Sie machten sich dann daran, an Orbs Musik zu arbeiten, doch da kehrte schon Niobe zurück. Es
bedurfte keiner besonderen Absprache zwischen den Mädchen, um der Mutter das Abenteuer mit den
Zigeunern zu verschweigen, denn andernfalls hätten sie mit Strafe rechnen müssen.
Sie besuchten die Hamadryade noch viele Male.
Orb lernte, nach der Art ihres Vaters Musik zu machen, und Luna verstand sich schließlich darauf,
mit der Aura der Dinge zu malen.
Doch vom Llano erfuhr Orb in jener Zeit nichts Neues mehr. Sie wagte es nicht, ihre Eltern nach
dem Lied zu fragen, denn dann hätte sie ihnen auch beichten müssen, wie sie davon Kenntnis
erhalten hatte. Der Zauberer hätte vielleicht mehr darüber gewußt, aber der war so beschäftigt,
daß ein kleines Mädchen nicht an ihn herankam.
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