Inkasso Mosel
würde ihm der Rhythmus wahrscheinlich nicht mehr gelingen. Zu dem Kraftakt, den Takt auf Band aufzunehmen, konnte er sich nicht überwinden.
Samstag, 30. November
Walde erwachte vom Geräusch der auf den Boden fallenden Gitarre. Diffuses Licht fiel ins Zimmer. Er sah auf seine Armbanduhr, kam mit der Zeit nicht klar. Das Glas hatte einen Riss. Langsam dämmerte ihm, dass die Uhr beim Sturz auf das Pflaster stehen geblieben war.
Die Küchenuhr zeigte kurz vor neun. Das durfte doch nicht wahr sein. Ein Albtraum! Aber er träumte nicht. Der nächste Schock traf ihn vor dem Spiegel im Bad. Seine Augenbrauenpartie war immer noch rund um die Risswunde mächtig angeschwollen, das Auge darunter blutunterlaufen.
Beim Zähneputzen bemühte er sich, den Unterkiefer so wenig wie möglich zu bewegen. Sein Kopf war klar. Er hatte keine Schmerzen und auch der Brummkreisel von letzter Nacht summte nicht mehr.
Draußen war es kalt. In der Allee staute sich der stadteinwärts fließende Verkehr. Unterwegs überlegte Walde, dass schon bald die erste Fuhre in der neuen Wohnung ankommen müsste. Doris fragte sich bestimmt, wo er bleibe. Er nahm sein Handy. Auch das noch! Der Akku war leer. Als er an der neuen Wohnung eintraf war niemand da. Und wenn Doris über Nacht ins Krankenhaus gekommen war?
Walde schlug denselben Weg wie vor etwa acht Stunden ein. Am Simeonstift-Platz rangierten die Reisebusse. In der Simeon-Straße war kaum mehr ein Durchkommen. Der Weihnachtstrubel war in vollem Gange. Walde bemerkte, wie ihn einige der Entgegenkommenden verstohlen musterten.
Vor der Buchhandlung waren die hohen Bücherstapel auf den Wühltischen gegen die feuchte Luft mit durchsichtiger Folie abgedeckt. Auch bei Tageslicht betrachtet, schien die Scheibe keinen Sprung abbekommen zu haben. Auf den nächsten Metern legte Walde einen Zahn zu und war umso enttäuschter, als vor dem Haus, in dem Doris zum letzten Mal übernachtet hatte, kein Umzugswagen stand. Sollten die ausgerechnet jetzt zu ihrer ersten Tour aufgebrochen sein?
Die Haustür stand offen. Am ersten Treppenabsatz saßen Uli und Jo, beide mit einer Tasse in der Hand. Soweit Walde das beurteilen konnte, trugen sie die gleichen Kleidungsstücke wie am Abend zuvor.
»Na so was, wir dachten schon, dich hätten die Spätfolgen deines Boxkampfes dahingerafft«, wurde er von Jo begrüßt. »Thrombosen, Parkinson und Blutgerinnsel sind nach schweren Knockouts keine Seltenheit.«
Walde versuchte, das Thema zu wechseln: »Da draußen ist ganz schön was los …«
»Ich sehe es vor mir.« Uli sprach mit verklärt nach oben gerichteten Augen. »Die Schlacht um die Weihnachtsgeschenke ist voll entbrannt. Ganze Busladungen marodierender Banden aus Eifel, Hunsrück, Luxemburg und den umliegenden Flusstälern wälzen sich durch die Straßen, nur bewaffnet mit Bündeln von Euros in den bloßen Fäusten. Wild entschlossene Einzelkämpfer halten die ersten Beutestücke umklammert …«
»Ist ja gut, Uli, wir wissen, dass du ein Dichter bist. Was macht Doris?«, unterbrach ihn Walde, dem klar wurde, dass die beiden immer noch betrunken waren.
»Nix, wie du siehst. Wir warten seit einer Stunde auf den Umzugswagen, den Doris’ zuverlässiger Künstlerfreund mitbringen sollte«, sagte Uli.
»Doris und Scholastika geht es gut«, ergänzte Jo.
»So wird sie ganz bestimmt nicht heißen«, sagte Walde. »Ihr seht aus, als hättet ihr letzte Nacht kein Bett gesehen.«
»Was Aussehen angeht, wäre ich an deiner Stelle ganz vorsichtig. Hast du heute schon in den Spiegel geschaut?« Als Walde nichts entgegnete, fuhr Jo fort. »Nachdem wir dich nach Hause gebracht hatten, lohnte es sich nicht mehr, ins Bett zu gehen. Was macht dein Schädel?«
»Fühlt sich wahrscheinlich besser an als eure Köpfe.«
»Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, da war an Schlaf nicht mehr zu denken«, sagte Uli. »Du machst aber auch Sachen.«
»Ich mache Sachen?«, entrüstete sich Walde.
»Zahle du lieber deine Druckereirechnungen, dann kriegt Walde auch keine Prügel mehr«, pflichtete ihm Jo bei.
»Ihr habt doch keine Ahnung«, echauffierte sich Uli. »Ihr Beamten lebt wie die Maden im Speck, ihr kriegt doch gar nicht mit, was los ist in der freien Wirtschaft. Die Leute haben Angst und bleiben auf ihrem Geld sitzen, falls sie überhaupt noch welches haben. Meine Kosten laufen weiter. Allein was ich am Hauptmarkt für eine horrende Miete berappen muss. Seit Monaten kriege ich für das Extrablatt keine
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