Inkubus
pechschwarzes Haar hatte, vielleicht war es auch ein Toupet – wandte sich nun an das Publikum an den Bildschirmen und starrte Primo Ramondi direkt in die Augen. Er zeigte mit ausgestreckter Hand auf ihn und kündigte ihn mit einem strahlenden Lächeln als Ehrengast an. Primo Ramondi verbeugte sich theatralisch zu dem rauschenden Applaus vom Band, der aus dem Lautsprecher ertönte. Dann schlüpfte er wieder in seine Schuhe und ließ sich in den winzigen Hinterhof hinab.
Dieses Mal würde er sich der Frau, die sich als seine Mutter verkleidete, zeigen. Er hebelte den Fensterriegel auf und kletterte in ihr Bad.
Auch sie erkannte ihn nicht sofort.
Sie versuchte, den schlampigen Morgenrock mit beiden Händen enger um sich zu ziehen, und drückte dabei ihre Brüste zusammen, was Primo in Gedanken in eine längst vergangene Zeit zurückversetzte, als ihrer beider Vater diese kaum erblühten Brüste gedrückt hatte, als wären sie sein Eigentum.
»Was machst du hier?«, fragte sie unwirsch und verängstigt.
Sie sprach mit verkniffenem Mund. So wollte sie die Wahrheit vor ihm verbergen, die sie in sich trug, die Wahrheit, wegen der er gekommen war. Die Geschichte, die er nun umschreiben würde.
»Hau ab, du Schlappschwanz!«, sagte die Frau noch einmal verärgert, und er erinnerte sich daran, wie sie ihn als Kind angespuckt und wie einen streunenden Hund verjagt hatte.
Da war ein Fetzen Wahrheit. Primo Ramondi konnte sie in ihren Augen lesen. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten.
»Sag mir, dass ich nicht schwach bin«, flüsterte er ganz ruhig, und er spürte, wie ihn eine neue, stärkere Erkenntnis erfüllte. Nicht sie würde ihm helfen, so wie er sich das immer in seinen Träumen ausgemalt hatte. Inzwischen hatte sich der Plan geändert, er brauchte niemanden mehr. Die Welt veränderte sich schon. Nun war er an der Reihe, konnte zusehen, wie die anderen verrückt wurden und sich vor Schmerzen wanden. Er hatte seine Leidensschuld vollständig beglichen. Nun würde er seiner Schwester helfen, Fleisch von seinem Fleisch, die andere Hälfte Leben, die ihm verwehrt worden war. Er würde sie bei der Hand nehmen und auf jenem neuen Weg zu einer erbärmlichen Behausung am Rande der Vorstadt zwischen streunenden Hunden und Zuhältern führen und so die Geschichte neu schreiben. Er würde sie lehren, in jener Welt zu überleben, die er bereits kannte, in der grauen, anonymen und gefühllosen Stadt. Er würde ihr die Tricks zeigen, die er wusste, um den Schmerz zu ertragen. Damit sie so stark wie er selbst werden würde.
»Sag mir, dass ich nicht schwach bin«, wiederholte er, kam näher und glitt mit einer schnellen, beinahe tänzerischen Bewegung an ihr vorbei zu dem schweren Vorhang am Fenster zur Straße, auf deren anderer Seite die beiden Schatten auf ihn warteten.
Er zog den Vorhang zu. Dann versetzte er seiner Schwester einen harten Kinnhaken, bevor er seine Zähne tief in einen ihrer Schenkel grub und mit einem einzigen Biss Haut, Fleisch und die blauen Strümpfe zerriss.
»Er ist da drin«, sagte Amaldi plötzlich, sprang auf und rannte auf die andere Straßenseite.
Palermo zögerte einen Augenblick wie überrumpelt, dann folgte er ihm.
»Aufmachen! Polizei!«, rief Palermo und trat gegen die Tür.
Amaldi stieß einen neugierigen Passanten zur Seite, ging zurück auf die Straße, um ein Stück Rohr vom Boden aufzuheben, und zertrümmerte damit die Fensterscheibe. Dann schob er vorsichtig mit dem Rohr den Vorhang beiseite. Durch die Gitterstäbe konnte er sehen, wie die Frau auf dem Boden lag und Primo Ramondi über ihr war, der sich jetzt mit weit aufgerissenen Augen und einem blutbeschmierten Mund dem Fenster zuwandte.
»Tun Sie das nicht!«, schrie ihm Amaldi zu. »Öffnen Sie die Tür!«
Primo Ramondi grinste nur und bleckte seine blutverschmierten Eckzähne, zwischen denen noch Gewebefetzen hingen. Dann knurrte er wie ein wildes Tier, und Amaldi sah die Klinge eines Messers aufblitzen.
Er ging rasch zu Palermo, der die Tür weiter mit Fußtritten bearbeitet hatte. Allmählich gab das Schloss nach.
»Zusammen. Auf drei«, sagte Palermo, der seine Pistole gezogen hatte. »Eins … zwei … drei.«
Als die Tür sich mit einem lauten Krachen öffnete, stürzten beide Polizisten ins Innere der Wohnung. Die Frau war inzwischen wieder auf den Beinen und stand jetzt vor ihnen mit schreckgeweiteten Augen. Eine ihrer weichen Brüste war aus dem Ausschnitt des Morgenrocks gerutscht. An der Innenseite des
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