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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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spürte, dass sie scharf und bereit waren. Sauber.
    Der Schwache verlangte nach der Nahrung, die ihm all die Jahre verweigert worden war. Sie würde ihn verstehen, sie würde ihm helfen.
    Sie war seine Mutter, die ihm schon einmal das Leben geschenkt hatte.
    Nun sollte sie ihm ein anderes, ein besseres Leben schenken.
    Er würde bekommen, was ihm zustand.
    Er würde in den Besitz der Wahrheit gelangen.
    Und sie dann in sich verschließen.
    Er würde der Welt eine andere Gestalt geben. Die einzig wahre Gestalt. Und dann würde er zusehen, wie die anderen verrückt wurden und sich selbst nicht mehr erkannten. Er würde sie auslachen, wenn sie durch eine ihnen unbekannte Welt irrten. Er würde ebenso grausam gegenüber diesen Verdammten sein wie sie einst zu ihm und ihnen ihre ganze neue Schwäche ins Gesicht schreien.
    Jetzt war seine Zeit gekommen. Er gierte nach dem, was ihm schon immer gehört hatte.
    Nur noch ein Schritt. Ein einziger Schritt.
    Er würde es vor den Augen dieser beiden Schatten tun. Denn sie würden ihn nicht sehen können, weil ihr eigenes Blut ihnen die Sicht vernebelte.
    Primo Ramondi lächelte, während ein Frösteln ihn zittern ließ. Die Wunde im Unterleib war entzündet, doch darum würde er sich später kümmern.
    Das Haus hatte eine Tür und nur ein – durch Eisenstangen geschütztes – Fenster. Der Polizist, der sich als sein Vater verkleidete, und sein dunkler Schatten behielten beide im Blick, denn sie beschützten die Letzte, die die Wahrheit verschachern, beschmutzen und durch den Dreck ziehen konnte.
    Doch Primo Ramondi kannte das Haus besser als sie.
    Auf der Rückseite, in einem winzigen Hinterhof, so groß wie eine Gefängniszelle und so finster wie ein Brunnenschacht, befand sich eine etwas wackelige Hängekonstruktion aus Leichtmetall und geschliffenem Glas – ein Bad. Das Bad ihrer Wohnung, dessen Riegel der Frau niemals Sicherheit bieten konnten.
    Primo Ramondi trat wieder auf die Gasse und entfernte sich von den beiden Schatten. Nach wenigen Metern bog er nach rechts ab und befand sich in einer Art dunklem Bogengang. Das seltsame Gewölbe wurde von An- und Ausbauten gebildet, die man ohne Baugenehmigung mithilfe von Eisenstreben in der jeweils gegenüberliegenden Hauswand verankert hatte. Auf diese Weise hatte man die Grundfläche der Wohnungen auf beiden Seiten der Gasse illegal vergrößert.
    Er hielt sich an einem Mauervorsprung fest, zog sich an einer Regenrinne hoch und erreichte so rasch das Grundgerüst, das den ersten illegalen Anbau trug. Dort klammerte er sich zunächst mit den Händen an eine Strebe und baumelte dann mit den Beinen in der Luft. Nun zog er die Beine an die Brust und schwang sich wie ein Akrobat nach oben, sodass er dort auf dem Grundgerüst zu stehen kam. Die Wunde in seinem Unterleib machte sich schmerzhaft bemerkbar.
    Er hatte das schon mehrmals getan, wenn er die Frau beobachten wollte, die sich als seine Mutter verkleidete, wenn er sehen wollte, wie sie nackt auf einem Freier hockte und ihre Brüste knetete. Er nahm dann den Weg über das Nachbarhaus, stieß die Fensterriegel auf, die sich im Laufe der Jahre wie arthritische Knochen verformt hatten und ihm nur wenig Widerstand boten, öffnete das Fenster und schlüpfte in die Wohnung der alten Frau.
    Er hatte auch ihr einen Spitznamen gegeben – die Wächterin. Doch diese alte Frau wusste nichts von ihm, sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie saß immer im Nebenzimmer vor dem Fernseher. Lautlos glitt er dann hinter ihrem Rücken in den Flur. Er sog den Geruch des elektrischen Ofens in sich auf, auf dessen Heizspirale der Staub dieses Lebens verbrannte. Die Wächterin hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht, als wartete sie dort auf ihren eigenen Tod.
    Anschließend führte ihn sein Weg einmal quer durch die Wohnung zu einem anderen Fenster, von dem aus er sich in den nächsten Hinterhof hinablassen konnte, denn hier gab es keinen Zugang von der Straße. Dort versteckte er sich zunächst hinter dem Heizkessel, danach ging er zum Badezimmerfenster der Hure, die sich als seine Mutter ausgab, stieß es auf und spähte hinein. Von hier aus konnte er das Bett sehen. Die nackte Mutter, die die Decke anstarrte, während die Männer all ihre Bitterkeit in sie hineinpumpten. Er sah ihre gespreizten Schenkel und die Füße, die sich in die Matratze bohrten. Sah, wie ihre Hände krampfhaft das Frotteetuch unter ihren Schenkeln festhielten, damit die Tagesdecke nicht fleckig wurde. Betrachtete ihre

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