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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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gepflügt, die sich von der Schläfe über Luz’ gesamte linke Schädelhälfte zog und ihm schlagartig die dünnen kastanienbraunen Haare verbrannte. Während er das Kind streichelte, das vor Schmerz ohnmächtig geworden war, sah er, wie diese seidigen Haare rund um die weiße und ganz glatte Wunde ein paar Sekunden lang qualmten, ehe das Blut in Strömen hervorquoll.
    Als er erwachte, lag er in einem Krankenhausbett in einem Zimmer, isoliert von den anderen Kindern.
    Er erinnerte sich an das Stück Zunge, das von den zusammengepressten Lippen des Lehrers herabfiel.
    Er erinnerte sich an den zerfetzten Penis des Doktors.
    Er erinnerte sich an seinen Vater, der auf dem Rücken lag, ein Bein verdreht über einem Stuhl. Im Hinfallen hatte er einen Schuh verloren und nun konnte man seine Socke sehen. Eine weiße Socke mit einem Loch, das Einzige, was in diesem Meer von Rot weiß war. Er erinnerte sich an die blutverschmierten Geldscheine, die unter der Leiche seines Vaters gelegen hatten.
    Die Wunde an seinem Kopf pochte schmerzhaft. Ein dumpfer Schmerz der Liebe. »Fer-ran-te«, raunte sie ununterbrochen in seinem Kopf. »Fer-ran-te-fer-ran-te-fer-ran-te«, hämmerte sie im Gleichtakt mit seinem Kinderherzen, und skandierte den Namen des guten Mannes, des Mannes aus Licht.
    Er erinnerte sich an sein Gesicht. Und ihm schien, er hätte in diesen fiebrigen Augen ein Licht wahrgenommen. Ein Licht, in dem er sich selbst wiedererkannte. Das ihn anzog und verstand. Ein Licht, das so anders war als das, was er in den Augen derer gesehen hatte, die ihn zärtlich streichelten, fesselten und von hinten nahmen.
    Ein reines Licht. Das Licht der Gerechtigkeit.
    Und er erinnerte sich daran, dass dieses Licht in Ferrantes Augen erloschen war.
    Er erinnerte sich daran, dass dieser gute Mann ihn losgemacht, an sich gedrückt und seinen kleinen nackten Körper gesäubert hatte. Der Mann hatte geweint. Mit jeder Träne war dieses Licht mehr ausgeblutet. Und er, Luz, hatte versucht, das Licht in sich aufzufangen, um es zu bewahren. Obwohl dieses Licht so groß war und er nur so klein. Um es ihm eines Tages zurückzugeben.
    Doch Ferrante war verschwunden. In diesem kühlen Krankenhausbett blieb von ihm nur das Licht. Und diese wunderbare Wunde.
    Ferrante wollte, dass sie beide ein Geheimnis teilten.
    »Woran erinnerst du dich?«, hatte ihn ein Polizist gefragt.
    »An nichts«, hatte er geantwortet.
    »Weißt du wenigstens noch, wie du heißt?«, hatte ihn darauf der Polizist gelangweilt gefragt.
    Er hatte keine Antwort gegeben.
    Eine Schwester verband gerade seine Wunde.
    »Wie heißt du denn?«, hatte ihn auch die Schwester gefragt, sanfter und mit einem fremden Akzent.
    Die Wunde an seinem Kopf pochte schmerzhaft. Ein dumpfer Schmerz der Liebe.
    »Licht …«, hatte er geflüstert, weil er an Ferrante dachte.
    »Luz?«, hatte die Schwester in ihrer Sprache wiederholt.
    An diesem Tag wurde der Junge neu geboren.
    In Blut. Aus dem Blut.
    Luz suchte in der Küche nach einer ausreichend großen Servierplatte, dann arrangierte er darauf sehr sorgfältig Birnen, Bananen, Pflaumen, Aprikosen und zwei Feigen vom September, die er für diesen Anlass schon vor Monaten eingefroren hatte. In der Mitte ließ er genügend Platz frei. Die Kirschen und den Apfel würde sein dritter Gast mitbringen.
    Ein üppiges Obststillleben.
    Dann streckte sich Luz auf dem Sofa aus.
    Die Lider des Sozialarbeiter zuckten vergebens über den blinden roten Kirschen.

XIX
    Amaldi betrat das Dover Beach und schaute sich suchend um. Er entdeckte ihn augenblicklich, er saß an der Bar, mit dem Rücken zum Schankraum. Der Mann stützte sich mit den Ellenbogen auf die Theke, hatte vor sich ein Glas mit einer abgestandenen bernsteinbraunen Flüssigkeit stehen, und hielt den Kopf in den Händen vergraben. Amaldi ging langsam zu ihm hinüber und setzte sich dann auf einen der Barhocker neben ihn.
    »Es war nicht Primo Ramondi«, sagte er zu ihm.
    Chefinspektor Palermo drehte sich langsam zu ihm um und starrte ihn an. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und wirkte abwesend. Die Pupillen waren zu zwei schwarzen Schlitzen verengt.
    »Commissario, leck mich doch«, sagte er.
    »Es war nicht Primo Ramondi«, wiederholte Amaldi.
    »Scher dich zum Teufel.«
    Amaldi starrte ihn an. Er nahm ein Licht in Palermos Blick wahr. Nicht das düstere Funkeln von Mörderaugen, es war das dunkle Licht eines namenlosen Schmerzes. Amaldi senkte seinen Blick auf die dreckige Theke, als ob

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