Inkubus
Giuditta.
Doch dabei sah sie nach unten.
Amaldi zog sie wieder an sich und hielt sie fest umarmt.
»Viele Grüße von Max«, sagte er dann.
»Hast du ihn denn auch darauf angesetzt?«
»Ja, natürlich. Er ist der Beste. Er ist außerordentlich begabt darin, Querverbindungen zwischen den banalsten Informationen zu finden …«
»Und, wie geht es ihm?«, meinte Giuditta und löste sich aus der Umarmung.
Amaldi drückte sie wieder an sich. Kraftvoll. Leidenschaftlich.
»Hast du Angst?«, fragte er sie noch einmal.
»Und du?«
»Ja.«
»Ich liebe dich.«
»Fällt dir heute nichts anderes ein?«, meinte Amaldi lachend.
Manche Männer waren eben dazu bestimmt, sich gegen den Sturm zu stemmen. Und nicht dazu, als Schreiner zu arbeiten.
»Ich habe Angst …«, gestand sie ihm schließlich. »Aber nur ein bisschen. Nur ein kleines bisschen …«
Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn hatte der Lehrer in einem gottverlassenen Nest unterrichtet. Dort sprach man überall mehr oder weniger zwei Sprachen, auf der Straße, in der Kirche genau wie in der Schule. Das vertraute, heimatliche Idiom seiner Mutter und diese fremde Sprache seines Vaters. Dann hatte er den Antrag gestellt, in die Stadt versetzt zu werden. Einige Jahre hatte er Schüler in der »Förderanstalt für sozial benachteiligte Kinder« betreut, wie ihre ursprünglichen, weltlichen Gründer sie in ihrem großen Reformeifer hoffnungsfroh genannt hatten. Doch dann wurde mehrfach das Verwaltungspersonal ausgetauscht, und mit jedem Wechsel schwand dieser anfängliche Optimismus ein wenig mehr, in gleichem Maße wie die finanziellen Mittel. Schließlich übernahm der Orden, dessen Nonnen bereits seit Gründung der Schule dort mitgearbeitet hatten, vollständig das Institut. Nach und nach wurden die staatlichen Angestellten aus dem Lehrerkollegium entfernt. Und dem Lehrer war es genauso ergangen wie all den anderen, die nicht dem Orden angehörten. Doch er gehörte zu den Letzten, die gehen mussten. Man hatte ihn wieder versetzt. Diesmal in eine Schule am Stadtrand, wo er bis zum Tag seiner Entführung, drei Tage vor seinem Tod, unterrichtet hatte.
Amaldi lief am Strand entlang und sprang von einem Felsen zum anderen. An diesem Morgen hatte ihn zu Hause das Geschrei der Kinder zu sehr abgelenkt. Vielleicht ging es ihm auch nur darum, seine Gedanken von seinem Heim, von Giuditta fernzuhalten. Um beide nicht damit zu vergiften. Oder er wollte seine Seele im Meer reinigen, damit sich die Unterwelt, die er erkundete, nicht wieder an ihn hängte wie eine klebrige Masse. An diesem Morgen hatte er Giudittas Angst gespürt, sie war förmlich mit Händen zu greifen gewesen, während er sie umarmte. Ganz deutlich hatte er gefühlt, wie besorgt sie war. Ihr wiedergefundenes seelisches Gleichgewicht war noch zu zerbrechlich. Als balancierten sie oben auf einem spitz zulaufenden Felsgrat, dachte er. Amaldi drehte sich um und betrachtete den weit geschwungenen Halbkreis der Bucht. Im Hintergrund zeichnete sich grau und verschwommen die Silhouette der Stadt ab. Wie wucherndes Unkraut, das sich an einem Berg festklammerte. Wie ein Tumor. Wie eine Krankheit, die weitere Krankheiten entstehen ließ. Und sie gleichzeitig alle in sich vereinigte.
Dort hatte man den Grundschullehrer Ernst Garcovich umgebracht. Dort lebte sein Mörder. Hatten sie einander gekannt? Die Antwort lautete natürlich Ja. Also musste man in der Vergangenheit des Lehrers suchen. Sie durchwühlen. Die Leiche sozusagen wieder ausgraben. Das zum Vorschein bringen, was der Mörder mit seiner schrecklichen Tat begraben hatte. Sie hatten einander gekannt, diese Hypothese musste man als gegeben voraussetzen. Dort mussten sie beginnen, denn sie hatten nichts anderes in der Hand.
Max Peschiera – ein Studienkollege von Giuditta, der die Universität verlassen hatte, um genau wie sein Onkel im Polizeiarchiv zu arbeiten – hatte sich schon an die Arbeit gemacht. Amaldi wollte, dass er sich vor allem auf die »Anstalt« konzentrierte. Mit dem Privatleben des Lehrers würde sich Frese beschäftigen. Doch Amaldis erster Eindruck war, dass diese Spur nicht viel hergeben würde.
Der Lehrer war ein Einzelgänger. Lebte irgendwo in der Peripherie. In einem Vorstadtviertel, das genauso aussah wie das, wo man ihn getötet hatte. Frese hatte es Amaldi beschrieben und der hatte dabei gleich die grauen, heruntergekommen wirkenden Wohnblocks vor Augen, mit dem dünnen Anstrich voller Blasen und Patzer. Die kleinen Balkons
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