Inkubus
mit den verblassten Farben, hier und da eine mickrige, anspruchslose Topfpflanze, die Metallspinde mit den von der Kälte verzogenen und von der Feuchtigkeit verkrusteten Türen. Die leeren Gesichter der alten Leute, die sich mit den Ellenbogen auf die mit brauner Rostschutzfarbe gestrichenen Geländer stützten und die Straße beobachteten. Kleine, gefräßige rote Milben, die um all diese Haufen schlaffer fahler Haut herumwuselten. Eine ganze Modenschau von hellblauen Flanellschlafanzügen, mit ein paar gelblichen, eingetrockneten Urinflecken im Schritt. Die Zigarette zwischen den Lippen, heiseres Husten, schleimiger Auswurf und wildes Fluchen. Keine einzige Träne. Und er hatte den Lehrer Garcovich vor sich gesehen, dort in dem Viertel, ein Verlierer inmitten anderer Verlierer, wie er nach Hause kam, in der einen Hand eine lederne Aktentasche, in der anderen eine Einkaufstüte. Ab und zu eine Zeitung. Und noch seltener in der Zeitung versteckt ein Pornoheft, um die Sehnsüchte eines einsamen Mannes zu befriedigen. Und eine Flasche Wein, um sich von den Gedanken, die sich daraus ergaben, abzulenken und sie zu betäuben. Amaldi sah ihn genau vor sich, wie er schweigend eine endlose, breite Straße entlanglief, auf deren Mittelstreifen alle zwanzig Meter ein kümmerlicher Oleanderbusch sein Dasein fristete, die traurigen Überreste der vertrockneten Blüten hingen noch an den Zweigen oder den länglichen, lanzettförmigen Blättern wie die abgestreifte, trockene Haut einer Schlange. Und ohne dafür einen besonderen Grund zu haben, stellte Amaldi sich vor, dass der andere diese Oleanderbüsche gehasst hatte. Und ihre Fähigkeit, in der Stadt zu überleben, wie alle Bewohner der Peripherie. Er stellte sich vor, dass der Lehrer die klebrige, milchige Flüssigkeit verabscheut hatte, die in den Lebensadern dieser billigen Pflanzen floss, genauso verheerend und giftig wie das Blut aus den Wunden, die dieser verlassenen, von der Kommune vernachlässigten Gegend geschlagen wurden. Die Nachbarn kannten ihn kaum. Einige wussten nicht einmal, dass er Lehrer war. Er hatte niemanden gestört. War auf den Eigentümerversammlungen niemals negativ aufgefallen. Er stellte den Ton seines Fernsehers nie zu laut. Und beschwerte sich nie, wenn es in der Wohnung über ihm Lärm gab.
Doch irgendjemand musste ihn gekannt haben. Und war zu ihm gekommen – vielleicht ohne den Argwohn des Lehrers zu erregen – und hatte ihn entführt. Hatte ihn drei Tage lang gefangen gehalten. Ihn misshandelt und schließlich ermordet. Jemand musste ihn so gut gekannt haben, dass er seinen Tod wünschte. Und zwar einen grausamen Tod, der dem Lehrer letzten Endes womöglich wie eine Befreiung vorgekommen sein mochte.
Doch von der »Anstalt« konnte man sich vielleicht Überraschungen erwarten. Dort waren »schwer erziehbare« Kinder untergebracht, unter diesem Begriff wurden sie allgemein von Sozialarbeitern und den Ämtern in den Akten erfasst. Sie kamen alle aus den ärmsten Bevölkerungsschichten, Kinder von Prostituierten, Drogenabhängigen, Kleinkriminellen, bedürftigen Familien. Kinder mit einem schweren Erbe, das sie sozusagen gebrandmarkt hatte, das ihnen unauslöschlich in ihren verletzlichen Körpern eintätowiert war, was ihre jungen, aber längst nicht mehr empfindsamen Seelen so geprägt hatte, dass sie sich niemals normal entwickeln konnten. Einige kamen mit Heroin im Blut zur Welt. Andere hatten bereits eine lange, von Gewalt geprägte Vergangenheit hinter sich. Sexueller Missbrauch. Misshandlungen, Unterernährung. Statistisch gesehen »förderten« diese Anstalten nur sehr wenige Kinder in einem Maß, dass sie danach in ein normales Leben entlassen werden konnten. Ihr Schicksal war ihnen schon zu lange vorherbestimmt, als dass sie sich aus eigener Kraft dagegen auflehnen könnten.
Max hatte eine Liste mit den Insassen der Anstalt aus den Jahren erstellt, als Ernst Garcovich dort unterrichtet hatte. Kinder im Alter zwischen fünf und dreizehn. Dann hatte er die Auswahl auf die Schüler dieses Lehrers eingegrenzt. Schließlich hatte er deren weitere Lebenswege verfolgt, vor allem die Einträge im Strafregister. Die meisten Kinder waren nun zu Kleinkriminellen oder Schwerverbrechern herangewachsen. Alle, die mit dem Gesetz direkt in Konflikt geraten waren, waren im amtlichen Vorstrafenregister erfasst. Andere tauchten in den Akten der Polizei nur als Tatverdächtige auf. Dabei ging es um Drogenhandel, Prostitution, Förderung von
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