Inkubus
grundlegend verändert hatten. Er hatte Angst, dass auch sein Schutzengel sie sehen, ja sogar berühren konnte, wenn er weiter dort bliebe.
Luz streckte eine Hand nach ihm aus. Das Haargel war durch den Schweiß aufgelöst, sodass einige Locken auseinanderfielen und die wulstige, gerade Narbe freilegten, die an der Schläfe begann.
Palermo zuckte zurück und entzog sich seiner zärtlichen Berührung. Er floh aus dem Zimmer, durch den Hinterausgang nach draußen, sprang dort über den immer noch ohnmächtig daliegenden Körper des Pockennarbigen und verlor sich in den Gassen des Käfigs. Die Wut, die er in sich trug, würde ihn noch umbringen. Er konnte seine Albträume nicht beschwichtigen, aber er würde sie so weit wie möglich von Luz fernhalten.
Er wusste, wo er ihn finden konnte. Beobachtete, wie er aus der Gasse auf der Rückseite dieses schmutzigen, dunklen Lokals für Perverse herausrannte, das er nur ein einziges Mal in seinem Leben betreten hatte.
Er lachte.
Wer von uns ist hier schwach?, dachte er.
Der Bulle flüchtete. Rannte vor der Wahrheit davon. Vor den Lügen, die er zu lange erzählt hatte. Seine Tarnung schmolz in der Glut der Wahrheit wie eine Maske aus Wachs.
Wer von uns beiden ist hier jetzt der Schwächere?, dachte er, als er ihm durch die Dunkelheit folgte. Wer ist der Schwächere? Der Sohn oder der Vater?
Der Bulle rannte, ließ sich durch die abschüssigen Gassen vorwärtstreiben, wie ein schwerer Stein, der ins Rollen gekommen war. Und mit jedem Schritt löste sich seine Maske ein wenig mehr auf und zeigte sein wahres Gesicht.
Enthüllte, wer er wirklich war.
Kein Bulle.
Enthüllte ihm, was er von ihm wollte, was er plante.
Er hatte es schon immer geahnt. Aber jetzt wusste er es mit Bestimmtheit.
Jetzt kannte Primo Ramondi den Plan.
Und hatte Angst.
Palermo lief, bis er keine Luft mehr bekam, weil er spürte, wie schreckliche Heerscharen von Dämonen nach seinen Knöcheln schnappten, hinter ihm schnaubten und sich über ihn lustig machten.
Luz war eines der Kinder, das er zu retten versucht hatte. Das beste, das reinste von allen. Er hatte ihn zu seinem eigenen Wohl verletzt, ihn blutend liegen gelassen, um ihn zu schützen. Sie hatten nie über ihr schreckliches Geheimnis gesprochen. Und vielleicht würden sie das niemals tun.
Völlig außer Atem erreichte er den Hafen. Dort ließ er sich schwerfällig auf die Knie sinken.
Als Palermo Luz wiedergefunden hatte, wollte er nicht, dass dieser sah, was aus ihm geworden war. Er wollte nicht, dass er den schmutzigen, verdorbenen Mann kennen lernte, zu dem er geworden war. Er wollte nur eins, sterben. Und es wäre besser gewesen, wenn er gestorben wäre; doch er schaffte es nicht, da er nach so vielen Jahren dieses besondere Licht wiedergefunden hatte. Es war Zufall gewesen. Oder ein Wunder. Oder vielleicht ein grausamer Scherz des Schicksals. Oder auch alles zusammen.
Palermo hatte geglaubt, er könnte für Luz ein anderer Mensch sein.
Und dann erinnerte er sich wieder an jenen Tag.
Seine Mutter hatte ihn umarmt, als er noch ein unschuldiges Kind war, das von nichts wusste, nichts von der Welt und vor allem nichts über sich selbst und seine wahre Natur. Als all das sich noch nicht entwickelt hatte und noch so klein war, dass es in ein warmes und feuchtes Gewächshaus passte, zu all den anderen kostbaren Schößlingen. Sie hatte ihn umarmt. Palermo erinnerte sich genau an jenen Tag, denn es war das erste Mal, dass seine Mutter diesen Satz sprach. Das erste und das letzte Mal. Er erinnerte sich noch so genau daran, weil seine Mutter so merkwürdig klang, so besorgt, so drängend. So verzweifelt. Dieser Moment hatte sich auf ewig in sein Gedächtnis eingebrannt. Wie eine Narbe.
»Versprich mir, dass du niemals erwachsen wirst«, sagte sie zu ihm.
Und dann hatte sie ihn so fest an ihre Brust gedrückt, dass er beinahe keine Luft mehr bekam. Palermo erinnerte sich an den weichen Busen, in dem sein Gesicht versank, an den Geruch nach Erde und Moos, zu dem sich das Parfüm seiner Mutter gesellte.
»Versprich mir, dass du immer mein kleiner Junge sein wirst.«
Er hatte immer geglaubt, dass er es schaffen könnte, ein anderer zu sein. Für Luz. Für seine Mutter.
Palermo zog sich am glitschigen Rand der Mole nach vorne und erbrach sich in das Wasser, das so dunkel und trübe dalag wie einst der See seiner Kindheit.
Der Junge wusste, dass zwei Wesen in seiner Brust lebten.
Eines war wunderschön. Und erstrahlte in vollkommenem
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