Inkubus
war. Allerdings unterstützte dieses Gutachten Palermos geäußerte Vermutung, Ramondi sei schuldig, und erhöhte die Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches, dass er der Täter war; dazu trugen besonders diese seltsamen Erklärungen bei: Hypothetische, ausgeprägte Tendenz zu sadistischem Verhalten, zu Handlungen, die ihr Vergnügen aus dem Leiden anderer beziehen. Wie konnte eine Tendenz zugleich hypothetisch und ausgeprägt sein?, fragte Amaldi sich. Die Sprache der Bürokratie verunstaltete alle Bereiche, sogar den schon ausreichend verwirrten und verwirrenden der Psychiatrie. Man hatte Primo Ramondi für »hypothetisch« fähig befunden, die ihm angelasteten Verbrechen begangen zu haben. Und dabei seinen Spaß gehabt zu haben. Es folgten weitschweifige Kommentare über die Art der beigebrachten Verletzungen. Die abfallende geometrische Form – die zwei X oben und das eine darunter bildeten ein auf dem Kopf stehendes Dreieck – konnte auch auf einen Hang zu Depressionen hindeuten. Jedenfalls ließ die Wahl einer geometrischen Form, welcher auch immer, im Kopf das Wort Obsession anklingen. Ein Bedürfnis nach Ordnung.
»Einer Ordnung jedoch, deren Rechnung nicht aufgeht«, fügte Amaldi in Gedanken hinzu.
In dieser geometrischen Zeichnung fielen zwei deutliche Ungleichgewichte auf, dachte er weiter. Die Zahl der X, die um die Brustwarze angeordnet waren, war ungerade. Und die Tatsache, dass der Täter sie nicht auf beiden Brüsten ausgeführt hatte, war die zweite Unausgewogenheit. Vorausgesetzt, Ramondi war wirklich der Psychopath, denn das hatte Palermo nicht beweisen können.
Mit der folgenden Diagnose des Psychiaters, in der er Ramondi als »zwanghaft reflexiven Typ« charakterisierte, stimmte Amaldi jedoch völlig überein. Man konnte auch sagen, ein brutaler Sadist, dem es wahrscheinlich im allerletzten Moment gelang, seinen ersten Impuls zu zügeln, ihn in einen zweiten oder auch Ersatzimpuls umzuleiten und ihn in eine scheinbar ausgewogene Geometrie zu kanalisieren. Der Anschein von Selbstkontrolle. Als versteckte er vor sich selbst eine unerträgliche Wahrheit. Im Wesentlichen zog Amaldi aus dem spärlichen Material den Schluss, dass Primo Ramondi ein sogenannter emotional gesteuerter Triebtäter sei.
Diese zwanghaft handelnden Menschen konnten vieles vorher planen, aber nicht alles. Das lag aber nicht an erblich bedingten intellektuellen Defiziten. Nein, eine hundertprozentige Planung brachte sie schlicht und ergreifend um das Vergnügen an der Tat. Sie kamen nur auf ihre Kosten, wenn sie gezwungen waren, ein wenig zu improvisieren; das brauchten sie. Und die Art, wie die Übergriffe auf die Prostituierten erfolgt waren, schien diese These zu bestätigen. Wahrscheinlich kannte der Täter sie, man konnte beinahe sicher sein, dass er sie beobachtet hatte, aber die Angriffe erfolgten immer auf offener Straße. Er ging ein hohes, wenn auch kalkuliertes Risiko ein, gesehen, entdeckt und bei seiner Tat gestört zu werden.
Amaldi legte ein weißes Blatt Papier vor sich und notierte darauf in Blau, mit ein wenig Abstand dazwischen, zwei Wörter, zwischen denen er eine gerade rote Linie zog, die an beiden Enden in einer Pfeilspitze auslief: Emotional 1 Rational.
Dann las er in dem psychologischen Gutachten weiter. Der Psychiater hatte eine medizinische Untersuchung gefordert. Genau wie Lehrer Garcovich vor zwölf Jahren. Er sprach dort von »eunuchenhaftem Aussehen«, »hoher, weibischer und hysterisch schriller Stimme«.
Die medizinische Untersuchung hatte den Verdacht des Gutachters bestätigt. Primo Ramondi war Opfer einer genitalen Hypotrophie. Seine Hoden und sein Penis hatten sich einfach nicht entwickelt.
»Eine unreife Frucht«, dachte Amaldi.
Sexuell unterentwickelt , hatte der Lehrer Garcovich geschrieben. Und er hatte recht gehabt. Doch Amaldi fragte sich wieder, wie gründlich er ihn untersucht hatte. Dass dem Psychiater eunuchenhafte Züge aufgefallen waren, war nichts Außergewöhnliches. Schließlich war Primo Ramondi zum Zeitpunkt der Untersuchung ein erwachsener Mann gewesen. Und ein Mann sollte auch wie ein Mann aussehen. Amaldi betrachtete das beigefügte Foto aus der Kartei. Primo Ramondis Gesicht wirkte wie eine absurde, beunruhigende Mischung aus dem einer Frau und dem eines Kindes. Er war ein Kastrat. Aber was an dem Aussehen des elfjährigen Jungen konnte seinen Lehrer Garcovich so misstrauisch gemacht haben, dass er eine medizinische Untersuchung gefordert und dies sogar noch in
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