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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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seinem Bewertungsbogen vermerkt hatte? Was konnte so auffallend daran gewesen sein, dass ein Kind ein Kindergesicht hat? Der Arzt, der Primo Ramondi untersucht hatte, hatte zwei Polizisten zu Hilfe rufen müssen, um ihn auszuziehen. Weshalb sollte man annehmen, dass er sich als Kind seiner Missbildung weniger bewusst gewesen war? Warum sollte er sie weniger entschlossen verteidigt haben? Wenn er wirklich so scheu und introvertiert gewesen war, wie ihn sein Lehrer beschrieben hatte, war er wohl kaum der Typ, der seinen winzigen Penis völlig offen und spontan vor den Mitschülern entblößt hatte. Er hatte sich wohl kaum ihren unausweichlichen Hänseleien ausgesetzt. Und ganz bestimmt hatte er in den Freistunden nicht an die Mauer gepinkelt, sodass Garcovich seine benachteiligende Verkrüppelung hätte auffallen können.
    Und deshalb fragte Amaldi sich jetzt noch einmal, wie der Lehrer diese »sexuelle Unterentwicklung« hatte feststellen können, die er in dem Bewertungsbogen für die dritte Jahrgangsstufe erwähnte.
    Amaldi klappte die Akte zu.
    Er begriff vollkommen, warum Chefinspektor Palermo bei dem Mord an Ernst Garcovich an Primo Ramondi gedacht hatte.
    Diesmal waren es nur zwei X. Es fehlte das X unterhalb der Brustwarze. Aber es waren immer noch X, und zweifellos hatte sie jemand mit einer dünnen, scharfen Klinge wie der eines Papiermessers eingeritzt. Garcovich war Primo Ramondis Lehrer gewesen. Und alles schien darauf hinzudeuten, dass zwischen ihnen etwas vorgefallen war. Schließlich noch der grüne, unreife Apfel, der zweifellos für Primo Ramondis unterentwickeltes Geschlechtsteil stehen konnte. Vieles sprach gegen ihn. Zu viel, als dass es sich um reine Zufälle handeln konnte. Und doch hielt etwas Amaldi zurück.
    »Kann es sein, dass sich durch die x-förmigen Verletzungen auf der Brust von dem Monster, das sein Vergnügen darin findet, Prostituierte zu entstellen, nach dem Tod dieses Ichs etwas auf ein zweites Ich übertragen hat, das seinen alten Lehrer getötet hat?«, fragte er sich.
    Amaldi rieb sich mit beiden Händen die müden Augen.
    Zwei Wesen und ein Mord. Ein Körper mit zwei Köpfen. Zwei Köpfe mit unterschiedlichen Denkweisen, die dennoch gemeinsam eine Tat begingen. War das denkbar?
    Das Einzige, was die psychiatrische Forschung mit Sicherheit erwiesen hatte, war, dass dieser nebulöse, gemeinhin als Wahnsinn bezeichnete Kosmos weder Grenzen noch Hindernisse kannte. Manchmal gelang es herauszufinden, wo der Wahnsinn begann, und den Grund dafür zu ermitteln. Man war – vielleicht – in der Lage, diesen schmalen Grat zwischen einem normalen Menschen und einem sogenannten Irren zu bestimmen. Darüber hinaus gab es keine weiteren Kategorien. Es war jedes Mal ein furchtbares Abenteuer. Jedes Mal immer wieder neu. Primo Ramondis Mutter war Prostituierte. Und er – immer angenommen, er war wirklich der Täter – misshandelte Prostituierte. Zerschnitt ihre Brüste. Ein Mangel an Muttermilch. Ein ungestilltes Bedürfnis nach Zuwendung. Auf das er die Unterentwicklung seiner Geschlechtsteile zurückführte. Ja, er richtete seine Wut auf einen präsexuellen Bereich des Körpers. Die Vagina blieb ausgespart, völlig unbeachtet.
    Wahrscheinlich hatte Palermo recht. Primo Ramondi war der Täter, ein Psychopath, der sich an Prostituierten verging. Wenn es in seiner Macht gestanden hätte, hätte Amaldi auf der Stelle einen Haftbefehl unterschrieben.
    Plötzlich fiel ihm ein Detail auf, das ihm nur teilweise entgangen war. Er suchte in der Akte nach Primo Ramondis Aufnahmeantrag für die Förderungsanstalt. Ganz unten auf dem Blatt: »Das ist es!«, sagte er. Zwei X mit Kugelschreiber geschrieben. Eines, wo der Vater hätte unterschreiben sollen. Das andere für die Unterschrift der Mutter. Der Verwaltungsangestellte hatte wahrscheinlich die beiden X dort hingesetzt, um anzukreuzen, wo die Eltern unterschreiben sollten. Aber keiner von beiden hatte es getan. Nicht einmal zum Unterschreiben waren sie gekommen.
    »Hast du diese beiden X etwa gesehen?«, fragte Amaldi laut in den Raum und fuhr mit der Hand über die Stelle der Akte, wo Primo Ramondis Name stand.
    Wenn es so war, dann stand das dritte X weiter unten da für seinen Namen. Kleiner und ganz für sich allein.
    Amaldi seufzte. »Ja, du bist der Prostituiertenschlitzer«, schloss er.
    Die Beweise, die Primo Ramondi mit dem Mord an Ernst Garcovich in Verbindung brachten, waren fast genauso einleuchtend. Allerdings nur fast.
    Amaldi

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