Inkubus
Prostitution und sexueller Ausbeutung verhaftet worden war. Und wegen Körperverletzung. Die Informationen über die Vergangenheit des Kindes waren mehr als dürftig und reichten nicht aus, um sich aus den oberflächlich zusammengeschriebenen bürokratischen Floskeln, die nichts mit einem psychologischen Gutachten zu tun hatten, klare Vorstellungen über sein früheres Leben zu machen.
Aufschlussreicher waren die Schülerakten. Lehrer Garcovich war ein guter Beobachter gewesen. Dort stand: Der Schüler Primo Ramondi, Alter neun Jahre, Jahrgangsstufe eins, findet keinen Kontakt zu seinen Mitschülern, er ist schweigsam und zurückhaltend, hat Lernschwächen, seine Schrift ist sehr undeutlich. Bei einigen Gelegenheiten konnte ich beobachten, dass er die Schikanen der Größeren ohne Gegenwehr über sich ergehen lässt und vielleicht als Folge der daraus resultierenden Frustrationen dazu neigt, seine Überlegenheit Schwächeren gegenüber zu missbrauchen. Versetzt. Im nächsten Jahr, nachdem er den Notizen des Lehrers zufolge mit unbeständigen Leistungen die erste Klasse geschafft hatte, schrieb der: Der Schüler Primo Ramondi, Alter zehn Jahre, Jahrgangsstufe zwei, zeigt weiterhin einen Hang zum Einzelgängertum, bei ihm wechseln sich Phasen, in denen er sich für den Lernstoff interessiert, mit solchen völliger Apathie ab, in denen er sogar Rückschritte zu machen scheint. Seine Schrift ist unverändert schlecht, manchmal sogar gänzlich unleserlich. Nach dem ersten Jahr der Eingewöhnung im Heim habe ich festgestellt, dass er die dort geltenden Regeln streng befolgt, die für ihn eine Art Stütze zu sein scheinen. Manchmal habe ich ganz bewusst das Unterrichtsschema durchbrochen, und während die anderen Kinder gemeinhin darauf eine Art von Aufregung an den Tag legten, reagierte der betreffende Schüler mit Niedergeschlagenheit, neigte dazu, auf seinem Pult zusammenzusinken, und wies Anzeichen von Unruhe und Verwirrung auf. Sein Verhalten im Unterricht ist seit der ersten Jahrgangsstufe mustergültig gewesen. In den Pausen habe ich bemerkt, dass er mit zunehmendem Alter die Schikanen der Größeren immer schlechter erträgt. Manchmal reagiert er mit Gewalt darauf. Im Allgemeinen folgt nach solchen Ausbrüchen eine der oben beschriebenen Phasen von Apathie. Versetzt. Drittes Jahr: Der Schüler Primo Ramondi, Alter elf Jahre, Jahrgangsstufe drei, zeigt weiterhin instabile Lernleistungen, was meine These unterstützt, dass dies mehr auf seine Persönlichkeit als auf intellektuelle Defizite zurückzuführen ist. Seine Schrift bleibt weiterhin mangelhaft, ebenso wie die mündliche Darstellung und Verarbeitung des aufgenommenen Lernstoffs. In dieser Beurteilung soll festgehalten werden, dass eine sorgfältige medizinische Untersuchung des Schülers angefordert wurde. Im Vergleich zu gleichaltrigen Jungen scheint der Schüler Primo Ramondi sexuell unterentwickelt zu sein. Versetzt.
Wie hatte Lehrer Garcovich eigentlich jene vermeintlich retardierte sexuelle Entwicklung nachprüfen können?, fragte sich Amaldi. Und was meinte er damit? Warum störte er sich daran? Oder hatte er etwa ein persönliches Interesse daran?
Die Beurteilung des folgenden Jahres unterschied sich grundlegend von den vorherigen: Der Schüler Primo Ramondi, Alter zwölf Jahre, Jahrgangsstufe vier, zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Versetzt. Kein Wort über seine Verhaltensstörungen, überhaupt kein Hinweis auf die angeforderte medizinische Untersuchung oder deren Ergebnis. Nicht einmal eine Bemerkung über die unleserliche Schrift, die sich wie alles Übrige wohl kaum plötzlich radikal verbessert haben konnte.
Die Beurteilung für die fünfte Jahrgangsstufe war nie ausgefüllt worden. In diesem Jahr war Primo Ramondi, mit knapp dreizehn, aus der Förderungsanstalt für benachteiligte Kinder ausgerissen.
Amaldi fragte sich, warum.
Hatte seine Flucht etwas mit dem veränderten pädagogischen Verhalten des Lehrers zu tun? Mit der Untersuchung über die sexuelle Entwicklung seines Schülers? Mit den Ergebnissen der medizinischen Untersuchung, wenn sie je stattgefunden hatte? Was war zwischen Primo Ramondi und Ernst Garcovich vorgefallen?
Amaldi nahm sich noch einmal den Bericht des Sozialarbeiters vor. Nichts daran war auffällig. Er überprüfte auch die Verwaltungsakte des Heims über Primo Ramondi. Keine Besonderheiten. Daraufhin räumte er seinen Schreibtisch frei und schlug die Akte auf, die Chefinspektor Palermo Frese übergeben hatte. Auf
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