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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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das Geschenk. Das war der Sinn, der ihm selbst einen Sinn verleihen würde. Er hatte dieser Vision nicht von Anfang an ins Gesicht sehen können, dazu war sie zu intensiv, sie hat sich ihm ganz langsam, Nacht für Nacht, Traum für Traum enthüllt. Indem sie mit ihm sprach und immer ein kleines Stück offenbarte, um ihn nicht zu blenden, um seine kleine, schmutzige Seele nicht zu verbrennen.
    »Du bist der Wächter. Du bist der Diener. Du hast kein Recht, schwach zu sein, denn du bist nichts. Du bist das Gefäß. Du bist das Sammelbecken. Dein Leben ist sein Eigentum. Das Licht , das du in dir trägst, gehört nicht dir. Du bist der Schoß, der nichts hervorbringt, du bist der Stall. Du bist die Dunkelheit, die dem Licht dient«, wiederholte er leise, so leise, dass die Worte sich in einem schwachen Raunen verloren, das sein Gast dort drüben, im anderen, dunklen Zimmer, nicht hören konnte. »Du bist die Dunkelheit, die die Dunkelheit mit einem Licht tötet, das ihr nicht angehört. Damit das Licht wieder erstrahlen kann. Denn die Dunkelheit hat nur einen einzigen Sinn, das Licht zu bewahren. Denn ein kleiner Teil Nacht bleibt erhalten, um den Tag vorwegzunehmen. Damit die Finsternis sich mit dem Licht vereinen wird. Damit die Dunkelheit Erlösung findet durch ihr Gegenteil. Denn der Diener ist Eigentum des Herrn. Denn der Diener ist der Herr. Und der Herr ist das Licht .«
    Während die Worte leise aus seinem Mund quollen wie ein Gebet, das seine Ohren sehnsuchtsvoll aufnahmen, rollten ihm Tränen über die Wangen und liefen den Hals hinab, befeuchteten und reinigten seinen zitternden nackten Leib. In einer Hand hielt er das funkelnde Werkzeug aus Stahl umklammert, mit dem er das Licht hervorholen sollte und die Dunkelheit auslöschen. In der anderen Hand hielt er einen grünen Apfel, den jemand vor vielen Jahren verschlungen hatte. Das Symbol einer nie besessenen Reinheit, die jemand mit einem einzigen Biss zerrissen, zerstört hatte.
    Er erinnerte sich noch an die Stimmen jener Männer, sie waren wie eine dunkle Kappe, die ihm über den Kopf geworfen worden war, wie eine alte Decke, mit der man versuchte, das Licht zu ersticken, das er bewahren sollte, auch wenn er damals noch nicht wusste wofür. Er erinnerte sich an die weißen Laken des Krankenhauses, die sein Körper beschmutzt hatte. An das warme Blut, das auf ihm erkaltete. Sich wie eine Kruste über ihn legte.
    »Denn der Herr wollte im Diener leben …«
    Schließlich, als sie gespürt hatte, dass er in seiner Schwachheit dennoch stark genug dafür war, hatte sich ihm seine Vision Stück für Stück offenbart und die Teile des Puzzles zusammengesetzt. Als sie seine Bereitschaft gespürt hatte, sich von seinem eigenen Schmutz zu erlösen. Erst dann, keinen Moment früher. Die Vision hatte ihm den in Trümmern liegenden Tempel des Lichts gezeigt, entweiht von dem obszönen Schmutz der Sünden, die er auf sich geladen hatte. Die Sünden des Dieners. In ihrer unermesslichen Güte, ihrer endlosen Großzügigkeit hatte sie dem Diener die Möglichkeit gegeben, zum Priester zu werden. Und in diesem Moment hatte sie mit einer Stimme aus Licht , die in ihren hellen Strahlen wie ein Echo widerhallte, zu ihm gesprochen: »Es ist Zeit! … Zeit! Worauf wartest du? … wartest du? Tu, was du tun musst! … musst! Warum zittert deine Hand? … zittert deine Hand? … zittert deine Hand? … zittert deine Hand? … zittert deine Hand?«
    Die Tränen hatten all die zerbrechlichen Dämme gebrochen, waren über seinen nackten Körper geströmt, diese unreine Hülle, die in sich das Licht trug.
    »… zittert deine Hand? … deine Hand? … Hand?«
    Seine Hand, die das geweihte Werkzeug umklammert hielt, zitterte.
    Die Hand, die den grünen Apfel hielt, den jemand mit einem einzigen Biss verschlungen hatte, zitterte.
    »Ich habe mich umgedreht und hatte Angst, noch der zu sein, der ich einmal gewesen bin«, sagte er leise, für die eigenen Ohren bestimmt, die des Dieners. »Ich sehe mich jetzt an und fürchte, dass ich niemals der sein werde, zu dem ich werde.«
    Die Hand, die das Werkzeug hielt, umklammerte es fester mit der Kraft und Willensstärke des Priesters, der sieht, wie sein eigener Glaube ins Wanken gerät, bis alles schmutzige Blut aus seinen Adern gewichen ist.
    Und die Hand, die den grünen Apfel hielt, öffnete sich und streichelte die Frucht, ließ ihn los, damit er einen Mittelpunkt, ein Gleichgewicht finden sollte. Denn in dieser Sünde lag die Erlösung.

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