Inkubus
ihrem Platz sitzen, legte ab und zu den Kopf schief und verfolgte Palermos Treiben im Innern ihrer zerstörten Zuflucht.
Ich hatte Angst …
Palermo sammelte die abgenagten Überreste des Blutbads auf.
… Angst, dass ich dann noch mehr leiden würde …
Als würde er die Spuren eines Verbrechens beseitigen.
… wenn ich sie getötet hätte …
Wie vor vielen Jahren.
»Das war richtig«, sagte er laut und steckte die Reste in einen schwarzen Müllsack. Er nahm den winzigen Kopf des Täubchens in die Hand, den die Ratte abgebissen hatte, und wickelte ihn in ein Stück Papier ein. Dann, während er sich in dem Albtraum verlor, der ihn nie verließ, weder bei Tag noch in der Nacht, nicht im Schlaf und nicht im Wachen, drehte er den Wasserhahn auf und wusch sich die Blutflecken ab.
Als Palermo dem Jungen zum ersten Mal begegnet war, hatte er sofort begriffen, dass an ihm etwas Besonderes, Fremdartiges war. Es lag daran, wie er seine Umwelt betrachtete, wie er sich bewegte. An dem Licht, das tief hinten in seinen von Trauer getrübten Augen leuchtete. Er war ein introvertierter Junge, der Stunden damit verbrachte, das spärliche Fleckchen Natur zu betrachten, das diese Vorstadtgegend zu bieten hatte, und währenddessen schienen die Zeit und die ganze Welt stehen zu bleiben. Ein Junge, der wie ein Kind seines Alters redete, dessen Augen jedoch Geschichten von Erwachsenen erzählten.
Und er hatte sich in dieser noch so unreifen, jungen Seele wiedererkannt.
Palermo betrachtete den leeren Taubenschlag. Und wenn er ihn noch so gründlich reinigte, würde das doch nicht das Verschwinden der kleinen Tauben ausgleichen. Die Leere dort würde das Verbrechen laut hinausschreien, bis die Tauben wieder neue Eier ausbrüten würden. Und auch dann würde das laute Rufen der Jungen nicht die beunruhigende Stimme der Erinnerung überdecken können. Palermo wusste genau, dass Wasser nicht ausreichte, um Blutflecken zu entfernen. Genau wie es nicht genügte, die Augen zu verschließen und wegzuschauen.
Er schloss den schwarzen Müllsack, nun prallvoll mit dem, was die Ratten von den Vögeln übrig gelassen hatten, dann ging er zur Brüstung der Terrasse und stützte sich dort mit den Ellenbogen ab. Die Taube folgte seinen Bewegungen mit ihren glasigen Augen. Palermo hätte ihr gern zugelächelt, so wie Luz es gekonnt hätte, aber er wusste, dabei würde nur eine furchtbare Grimasse herauskommen. Er starrte auf das banale, gesichtslose Vorstadtviertel unter ihm, das so weit entfernt war von jener wunderschönen Villa am Seeufer. Er betrachtete die Balkone mit ihren spärlichen, gewöhnlichen Pflanzen, die so dürftig wirkten im Vergleich zu jenen fleischigen Kamelien, die dort im Gewächshaus so üppig gediehen. Er hörte die lauten, misstönenden Geräusche der Großstadt und suchte darin nach einem Klang, der ihm die Lieder aus seiner Kindheit zurückbringen würde, als er mit seiner Mutter getanzt, seine kleinen, von dunkler, moosiger Erde schmutzigen Händchen auf ihre Hüften gelegt hatte. Und er beobachtete forschend die Frauen, Kinder und Männer, die diese Vorstadtgegend bevölkerten, ohne sie zu erkennen. Ohne sie zu begehren. Er betrachtete den Rand der ländlichen Gegend hinter ihm. Und den Rand des Meeres vor ihm und den des trüben Himmels, der nie klar oder rein war, nie hellblau, nie dunkelblau oder sternenklar. Ein Himmel, der nicht mal der Rand von etwas Unendlichem war. Sondern in einem Käfig gefangen.
»Versprich mir, dass du niemals erwachsen wirst«, hatte seine Mutter gesagt und ihn an ihre Brust gedrückt, wobei sie ihn beinahe in dem Geruch nach Moos und Erde erstickte. »Versprich mir, dass du immer mein kleiner Junge bleiben wirst.«
Ein Himmel, den die schäbigen Geschichten der Menschen getrübt hatten. Von dem die Erwachsenen lediglich erwarteten, dass er ihre schändliche Vergangenheit wahrnahm, während sie ihn mit ihrer Gegenwart vergifteten.
Als er forschend in diesen trüben milchigen Himmel starrte, sah Palermo dort auch seine Geschichte. Die Geschichte des Kindes, das er gewesen war, des Jungen, der er dann geworden war, und des Mannes, der er krampfhaft versucht hatte zu sein. Die Geschichte dieses menschlichen Wracks, das sich seit zwölf Jahren in den tosenden Fluten seiner eigenen Sünden verlor.
Palermo hatte den Jungen wiedererkannt.
Und der hatte sich in seinem Kopf festgesetzt.
Bis er eines Nachts in das Kellergeschoss eines Rohbaus eingedrungen war. Allein. Mit einer nicht
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