Inkubus
registrierten Waffe in der Hand und einem Herz, das laut schlug wegen der Amphetamine, die er nahm, um wach zu bleiben. Er war den Stimmen gefolgt, dem finsteren Lachen, dem Stöhnen, den grellen Lichtern in der Dunkelheit dieses menschenleeren Ortes. Und dort hatte er einen Mann mit einer Videokamera in der Hand vorgefunden. Die Scheinwerfer beleuchteten zwei alte Männer mit heruntergelassenen Hosen und runzeligen Schwänzen, die in der Luft wippten. Und da war ein Vater gewesen, der Geld zählte.
Und dieser Junge. Nackt. Gefesselt. Eine Schlinge um den Hals.
Die Taube kam näher. Palermo hielt ihr ein Maiskorn hin, das sie aufpickte, und dann kam sie noch ein wenig näher. Palermo füllte seine Hand mit Körnern und hielt sie der Vogelmutter vor den Schnabel. Als er sie ansah, bemerkte er, dass ihre Augen gar nicht glasig waren.
Er fühlte in der Tasche den Zettel mit der Nachricht, die ihm Primo Ramondi geschrieben hatte. Palermo schnaubte vor Wut.
Ratten. Sie kamen nachts aus den Gullys. Tagsüber blieben sie in ihren Verstecken in der Kanalisation, mit ihren schnuppernden Schnauzen, die zwischen den diarrhöischen Gerüchen der Stadt den süßen Duft nach Fleisch, nach lebendigem, jungem Fleisch wittern konnten. Und es gab keine Festung, die ihnen standhalten konnte. Und nichts Reines, das sie nicht beschmutzen wollten. Palermo wandte sich der grauen, monotonen Peripherie zu, die sich vor seinen Augen erstreckte. Die dunklen Straßen dort unten zwischen den Häusern wirkten wie Felsspalten, dachte er noch einmal. Aber kein Gipfel war hoch genug, um dem Leben zu entkommen.
»Versprich mir, dass du nie erwachsen wirst.«
»Versprich mir, dass du immer mein kleiner Junge bleiben wirst.«
Der Junge war nackt und weinte nicht.
Palermo hörte, wie die Tür zur Dachterrasse aufging.
Ich hatte Angst … Angst, dass ich dann noch mehr leiden würden … wenn ich sie getötet hätte …
Palermo drehte sich um. Luz ließ seine langen feingliedrigen Finger über die Gitter des Taubenschlags gleiten.
»Sie kommen zurück, sobald sie den Schrecken vergessen haben«, erklärte er Palermo lächelnd.
»Und die Ratten?«
»Die auch …«
Luz trat an die Brüstung, streichelte die Taube. Dann erschauerte er heftig und presste sich an Palermos kräftigen Körper.
»Bleibst du?«, fragte er. Er glühte, als hätte er Fieber.
»Nein … ich muss gehen.«
»Ist es wichtig?«
Der nackte Junge war Luz gewesen.
»Ja, es ist wichtig.«
Palermo würde diese Ratte unter seinem Schuh zerquetschen.
Er kämmte die Haare der Frau durch, die seiner Mutter so ähnlich sah. Löste jeden Knoten, Strähne für Strähne. Feine, weiche Haare glitten über seine Finger. Haare, die das ganze Licht des Tages einfingen und es seinen Augen vervielfacht, wie durch ein Kaleidoskop zurückgaben. Er kämmte sie sorgfältig, liebevoll, vorsichtig. Er hatte Angst, diese zarten Fäden zu zerreißen, die er entwirrte wie eine verworrene Geschichte. Und zwischen diesen leichten Strähnen, die so hell waren wie Lichtstrahlen, schien er, während er sie voneinander trennte, eine andere, dunklere zu entdecken. Sie war rot und ging von der Schläfe der Frau aus, die seiner Mutter ähnlich sah. Er nahm sie zwischen die Finger. Sie war aus Seide, einer raschelnden, kühlen Seide, die angenehm anzufassen war. Eine lange Seidensträhne. Länger als alle anderen. Er betrachtete sie und suchte ihr Ende. Die Seidensträhne flatterte ein wenig hoch, weil ein leichter Windhauch aufkam, und kräuselte sich. Er folgte dem Stoff, lachend, den Kamm in der Hand. Dann trat er auf die Strähne, setzte seine Füße vorsichtig darauf, wie ein Seiltänzer das Seil betritt. Dieses Band schien nicht enden zu wollen. Es führte ihn zurück in die Gassen einer Stadt, die seiner ähnelte, an alle Stätten seiner Kindheit, auf Felder, ähnlich denen, die er kannte, ganz nach oben auf einen mit Dornengestrüpp überwucherten Hügel, und dann führte sie ihn wieder hinab zu einem Gebäude, das dem Heim ähnelte, kreuz und quer durch ein Labyrinth aus Schaufensterpuppen, die auf ein Schiff verladen werden sollten. Und eine von diesen Schaufensterpuppen sah dem fetten Lehrer ähnlich, der ihn ausgezogen und angestarrt hatte. Doch er blieb nicht stehen, er lief weiter auf diesem roten Band, das jedoch inzwischen so klebrig geworden war, dass der Windhauch es nicht mehr zum Flattern brachte. Und bemerkte, dass er zu dem lichtdurchfluteten, weißen Ort zurückkehrte, wo er die
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