Inkubus
Frau zurückgelassen hatte, die seiner Mutter ähnlich sah. Die Seidensträhne war zu einem roten Rinnsal geworden, das immer klebriger wurde. Er konnte die Augen und die Füße nicht mehr von diesem flüssigen Band lösen. Dann war er wieder dort angelangt, von wo er aufgebrochen war. Die Frau, die seiner Mutter ähnlich sah, war nicht mehr dort. An ihrem Platz saß jetzt ein Junge. Er war schmutzig und nackt und weinte. Der Junge, der getötet hatte. An seinem Kopf war eine Wunde, unter den Haaren, die von der Schläfe ausging. Daraus tropfte Blut, das jenes kleine rote Rinnsal bildete, dem er bis hierher gefolgt war. Die Wunde schien unergründlich tief. Er senkte den Blick. Jetzt hielt er keinen Kamm mehr in der Hand. Sondern ein Papiermesser.
Es klingelte an der Tür, und der Albtraum verschwand.
Er schreckte hoch und war sofort hellwach.
Der Junge war in der dunklen Höhle.
Es klopfte.
Er öffnete.
Draußen stand der Tod.
»Wer ist da?«, fragte er mit seiner dünnen kehligen, beinahe weibischen Stimme.
»Der Hausverwalter.«
Primo Ramondi öffnete die Tür einen Spalt breit.
Der Mann warf sich mit der Schulter dagegen, legte all seine Kraft in den Stoß und katapultierte sich in die Wohnung.
Primo Ramondi wurde zu Boden geschleudert. Er wollte schon aufstehen, war bereit zu kämpfen, mit einem brutalen Glitzern in seinen Augen suchte seine Hand in der Hosentasche nach dem Messer, doch dann erkannte er den Mann, der ihn angegriffen hatte, und auf seinem Gesicht zeichnete sich nackte Angst ab. Er wusste, was der andere wollte. Inzwischen kannte er dessen Plan. Sein aggressives Gehabe fiel in sich zusammen. Er versuchte zu lächeln.
Palermo entdeckte etwas Wildes, Raubtierhaftes in Primo Ramondis Lächeln, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, obwohl er den Grund dafür nicht kannte.
»Der Arm des Gesetzes«, sagte Ramondi mit dieser unangenehm weibischen Stimme und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Da erkannte Palermo, was ihn zutiefst irritiert hatte. Ramondi hatte acht Eckzähne. Vier zu viel.
»Ich rufe auf der Stelle meinen Anwalt an«, erklärte Ramondi.
Palermo packte das Telefon und schleuderte es wutentbrannt gegen die weiße Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers.
Primo Ramondi rührte sich nicht.
»Ich weiß, dass du es warst«, sagte Palermo.
Primo Ramondi antwortete nicht darauf.
»Diesmal ist es Mord.«
Ein kaum wahrnehmbares Aufleuchten ging durch Ramondis Augen.
Palermo begann wütend, das Wohnzimmer zu durchsuchen, stellte alles dort auf den Kopf. Das Sofa, den Sessel, die Kissen, den niedrigen Couchtisch. Dabei suchte er dort nach nichts. Auf diese Weise versuchte er bloß, seinen Zorn in Zaum zu halten. Doch all dieses Weiß machte ihn schier verrückt.
»Ganz egal, was Sie jetzt finden, diese Durchsuchung ist illegal«, meinte Primo Ramondi daraufhin.
Palermo drehte sich abrupt um und gab einem unbezähmbaren Drang nach. Instinktiv zog sich sein rechter Arm erst ruckartig zurück und schnellte dann mit geballter Faust nach vorn, in Ramondis Bauch, der sich daraufhin keuchend vor Schmerzen zusammenkrümmte. Palermo packte ihn mit der linken Hand im Nacken, mit der rechten holte er ein zusammengeknülltes Stück Papier aus seiner Jackentasche und stopfte es ihm in den Mund. Dann versetzte er ihm noch einen Schlag ins Gesicht.
Primo Ramondi ließ sich auf den Boden fallen, ohne sich zu wehren. Seine Nase blutete. In seinen Augen war noch immer diese nackte Angst zu sehen. Und der Schmerz. Der Schmerz aus einer anderen Zeit. Einer anderen Geschichte. Während er Palermo ansah, kaute er auf dem Papier herum. Er spürte es zwischen den Zähnen knirschen. Dann schluckte er. Schließlich stand er wieder auf.
»Ich werde wiederkommen und dann bist du erledigt«, sagte Palermo im Hinausgehen und schlug die Tür hinter sich zu.
Primo Ramondi rührte sich nicht. Er lauschte. Fünfundvierzig Sekunden lang. Dann verkündete ihm ein kaum wahrnehmbares klickendes Geräusch, dass die Audiosensoren die Aufnahme unterbrochen hatten.
Er richtete das umgeworfene Sofa wieder auf, öffnete das zweitürige Schränkchen, holte einen kleinen Pinsel und eine Dose abwaschbare weiße Farbe heraus und widmete sich konzentriert der Beseitigung des grauen Streifens, den das Telefon auf der Wand hinterlassen hatte. So suchte er einen verschwundenen Frieden wiederzufinden, den der Albtraum der Vergangenheit und die Wahrheit, die ihm auf der Seele lastete, in sich
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