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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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befestigt, von der das Objekt stammte, und dem entsprechenden Datum. Auf den Regalen an den Wänden des Labors reihten sich Dutzende Gläser in Zweier- und Dreierreihen aneinander.
    Zunächst hatte Violino nach dem Zufallsprinzip gesammelt.
    Doch dann hatte er aus Versehen eine Greisin getötet, als er ihr eine Überdosis Abführmittel verabreichte, um eine über sechzehn Tage andauernde Verstopfung zu lösen. Der Tod der alten Frau hatte ihm die Erleuchtung gebracht, wie er Primo erklärte. Von da an änderte er seine Vorgehensweise. Er sammelte immer noch Exkremente, doch er hatte seine Methode abgewandelt. Er suchte sie nicht mehr zufällig. Er wählte ein bestimmtes Opfer aus und widmete sich dann Wochen, manchmal auch Monate, nur dieser einen Frau, sammelte möglichst viele Proben ein, untersuchte sie, drang in die Seele seines Opfers durch dessen Ausscheidungen. Mit erfahrenem Blick analysierte er Farbe, Form, Geruch und unverdaute Speisereste.
    Sobald er seine Untersuchung für abgeschlossen hielt, vergiftete er die Greisin.
    In den letzten fünf Jahren hatte er das neunmal getan, prahlte er. Mit seiner winzigen Handschrift hatte er die Geschichte jeder ermordeten Frau auf großformatigen Zeichenblockblättern niedergelegt und mit bunten, sorgfältig ausgearbeiteten geometrischen Mustern umrahmt. Ganz oben auf dem Blatt vermerkte er das Datum des ersten Fundes, ganz unten den Todestag. Danach verschloss er die Deckel der Gefäße luftdicht mit Silikon und packte alle Gläser in große Kartons.
    Einmal verätzte sich Primo dabei aus Versehen. Violino hatte ihm inzwischen erklärt, wie man Formalin herstellte, indem man Wasser mit zehn Prozent Formaldehyd versetzte. Es war auch nur eine kleine Wunde, aber nach einer Weile bemerkte Primo, dass an dieser Stelle keine Haare mehr nachwuchsen. Daraufhin hatte er systematisch mit einer Pipette alle Wurzeln seiner Schamhaare verätzt, um für immer Kind zu bleiben.
    Seine Lehrzeit bei Violino zog sich noch ein paar Jahre hin, und so war Primo ohne Bedenken in Kontakt zu seiner wahren Persönlichkeit getreten. Selbst wenn er Violino inzwischen mit anderen Augen sah – unter anderem missfiel ihm dessen selbstgewählter Beiname immer mehr, der für ihn nur ein Zeichen von übersteigertem Selbstwertgefühl und Selbstüberschätzung war –, betrachtete er ihn doch immer als seinen Meister, dem er Zuneigung und Dankbarkeit entgegenbrachte, ein Gefühl, das er sich keinem anderen gegenüber zugestand.
    Nachts begleitete er ihn immer öfter in die Heime und manchmal sammelte auch er den Kot der alten Leute ein. Aber es bereitete ihm weit weniger Vergnügen als seinem Meister. Das war Violinos Plan, nicht seiner. Doch er begriff, dass auch er irgendwann seinen eigenen haben würde.
    Eines Nachts erschloss sich ihm sein wahres Wesen. Er war leise an der fetten unaufmerksamen Pflegerin vorbei in ein Zimmer geschlichen, aber die greise Bewohnerin des Altenheims – deren Tage nach Aussage von Violino gezählt waren – war aufgewacht und hatte ihn gesehen, wie er gerade die Fäkalien aus dem Nachttopf holte. »Bist du der neue Pfleger?«, hatte ihn die alte Frau verschlafen gefragt. Primo war schon in ähnlichen Situationen gewesen und verlor daher nicht die Beherrschung. Sonst hatte er einfach still gelächelt oder schlicht mit dem Kopf genickt. Die meisten dieser Frauen waren schon seit langem nicht mehr bei klarem Verstand. Doch in dieser Nacht hatte Primo den Behälter mit den Exkrementen der Alten auf dem Bett so abgestellt, dass sie ihn sehen konnte, und zu ihr gesagt: »Nein, ich bin ein Engel. Und ich komme, um dir anzukündigen, dass du bald sterben wirst.« Als die alte Frau mit schreckgeweiteten Augen gewimmert hatte: »Bitte töte mich nicht!«, hatte Primo gespürt, wie ihn ein unbekanntes Gefühl der Erregung durchströmte. »Ich bin nur der Überbringer der Botschaft«, hatte er lächelnd zu ihr gesagt, ein Rasiermesser aus der Tasche gezogen, das er immer bei sich trug, und hinzugefügt: »Aber ich muss dich zeichnen, damit der Tod dich erkennt.« Er hatte das runzlige Gesicht der Greisin gepackt und ihr auf Höhe der Schläfe einen kleinen Schnitt verpasst, aus dem ein Tropfen Blut gequollen und auf das reine Laken getropft war. Da hatte sich Primo mit einem Schlag wieder an seine Geschichte erinnert. Die Geschichte, die er in der Nacht des Blutes gelesen hatte. Als er das Kind getötet hatte.
    Er war aus dem Zimmer der Alten geflohen. Wie damals.
    Eine Woche

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