Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
Hause. Erleichtert sah Boiron auf seine Armbanduhr. Es war zwei Minuten nach Mitternacht. Sie war zu Hause und noch wach. Vielleicht wartete sie ja auf ihn. Vielleicht würden sie sich ja noch ein wenig unterhalten und gemeinsam lachen.
    Instinktiv beschleunigte der Richter seine Schritte, doch gleich darauf verlangsamte er sie wieder. Er wünschte nichts sehnlicher, als mit ihr zusammen zu sein und ihr seine große Liebe zu beweisen. Doch gleichzeitig befürchtete er, dass die Stimmung oben nicht so heiter sein würde, wie er es sich gerade ausmalte. Vielleicht würde seine Frau ihm wie so oft vorwerfen, dass sie sich mit ihm langweilte. Und er würde sich ihretwegen alt fühlen.
    Mit ihren neunzehn Jahren war sie einfach zu jung für ihn. Fast noch ein kleines Mädchen. Sein kleines Mädchen.
    Er war vierundfünfzig. Fünfunddreißig Jahre Altersunterschied. Bald, wenn er sechzig war, würde Boiron in Pension gehen, und sie wäre dann eine junge Frau von fünfundzwanzig Jahren. Diese ehelichen Zahlenspiele beschäftigten und quälten den Richter Tag und Nacht. Bei ihnen passte einfach so vieles nicht zusammen. Wie alle jungen Leute brauchte sie acht, neun Stunden Schlaf. Ihm genügten vier, höchstens fünf. Wenn sie schlief, glätteten sich ihre wenigen Falten, ihr Gesicht entspannte sich und wurde zu einer ebenmäßigen, duftenden weißen Oberfläche. Er war mager, wirkte schmächtig und gebrechlich und wurde ständig von lebhaften Träumen oder gar Albträumen geplagt. Daher knirschte er im Schlaf mit den Zähnen, runzelte die Augenbrauen oder sprach sogar laut. Sein ganzes Leben lang hatte er ununterbrochen unter nervlicher Anspannung gestanden und es mit einer erhöhten Adrenalinzufuhr wettgemacht, wo andere sich auf ihre Muskeln oder ihre robuste Gesundheit verließen.
    »Du siehst hässlich aus, wenn du schläfst«, sagte sein kleines Mädchen immer.
    Deshalb bemühte er sich, nicht zu schlafen, solange sie wach war.
    Doch manchmal kam seine junge Frau sehr spät in der Nacht nach Hause. Das Amt eines Richters kannte keine geregelten Arbeitszeiten, und allzu oft musste er sie am Abend allein lassen. Dann ging sie mit Freundinnen aus, zumindest erzählte sie ihm das. Bei diesen Gelegenheiten schlief Boiron wie ein alter Mann im Wohnzimmersessel ein, vor dem Fernseher oder mit einem Aktenbündel im Schoß. Mitten in der Nacht schreckte er verfroren und mit steifen Gliedern hoch und lief ins Schlafzimmer, um nachzusehen, ob sie schon nach Hause gekommen war. Fand er sie dann friedlich schlafend im Bett, tief in die Decken gekuschelt, beugte er sich über sie und schnupperte an ihr, mit einer Mischung aus Hoffnung und Furcht, er könnte an ihr den Geruch eines anderen Mannes entdecken. Er stellte sich vor, wie er sie dann aus seinem Haus jagte, wie er sie demütigen und in ihr früheres, erbärmliches Leben zurückstoßen würde; noch vor zwei Jahren war sie nur ein kleiner Lehrling in einem Schreibbüro neben dem Gericht gewesen. Sah vor sich, wie sie ihn anflehte und die zärtlichsten Worte für ihn fand, nur damit sie wieder in das luxuriöse Leben zurückkehren durfte, das er ihr bieten konnte: eine großzügige Wohnung, schöne Kleider, ein Sportwagen, das Ferienhaus am Meer. In seiner Fantasie kniete sie vor ihm, Tränen strömten über ihre rosigen glatten Wangen, ihr fester Busen unter dem BH aus Spitze bebte bei jedem Schluchzer. Er würde die Macht auskosten, die er über sie hatte, und er stellte sich sogar vor, dass sie mit von Tränen der Reue rotgeweinten Augen hässlich aussehen würde. In diesen Augenblicken schmerzhaften Triumphes hörte er sich selbst zu ihr sagen: »Jetzt hör schon auf zu heulen, sonst verlierst du ganz schnell dein kostbarstes Gut, die zerbrechliche Schönheit der Jugend, und dann wüsste ich keinen Grund mehr, warum ich dich behalten sollte.«
    So würde er ihr wie einem kleinen Mädchen Angst machen.
    Aber noch öfter quälte sich Boiron damit, sich auszumalen, wie sie in den Armen eines jungen, kräftigen Liebhabers lag, der ihre überschäumende sexuelle Lust voll und ganz zu befriedigen vermochte. Er sah sie vor sich, wie sie sich lustvoll wand, wie sie stöhnte, schrie und sich obszönen Praktiken hingab.
    Danach fühlte er sich wieder besiegt und verzweifelt. Alt und lächerlich. Und das Gefühl von Erniedrigung ging über in Frustration und Wut.
    Er hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt. Obwohl er langsam ging, geriet er schon außer Atem. Er blieb kurz stehen

Weitere Kostenlose Bücher