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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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später vergiftete Violino die alte Frau, die im Sterben zu ihm gesagt hatte: »Danke dem Engel, dass er mir meinen Tod angekündigt hat. Ich bin bereit.« Violino hatte die letzten Worte des Opfers niedergeschrieben. Dann hatte er alles Primo erzählt und stolz gemeint, dies sei ein Zeichen, dass der Himmel seiner Mission wohlwollend gegenüberstünde.
    An diesem Tag erfasste Primo seine wahre Natur in all ihrer Größe und fühlte sich von nun an seinem Meister überlegen.
    Violino bezeichnete sich als Künstler. Primo beschloss, er würde ein Priester sein. Violinos Greisinnen lebten ohne Angst, sie wussten nicht einmal, dass sie einen Feind hatten. Primo hatte dagegen entdeckt, dass diese Angst, die er in den Augen der Frau gelesen hatte, die Quelle sein würde, aus der er den Durst seiner Seele stillen würde. Violinos Ziel war zu töten, damit er das Wort »Ende« auf sein Zeichenblatt schreiben konnte. Primo war dagegen zu dem Schluss gekommen, dass der Tod die Erlösung des Opfers bedeutete. Er würde seine Beute am Leben lassen. Damit auch die Angst am Leben blieb.
    Und er würde eine alte Wunde wieder öffnen. Jedes Mal. Damit seine ganze Geschichte irgendwann ausgeblutet war.
    Primo Ramondi hatte die Folter als Läuterungsprozess begriffen. Töten und Foltern waren zwei völlig verschiedene Handlungen, die sich keineswegs auseinander ergaben. Töten konnte ein notwendiger Akt sein, etwas, das als Ventil für Wut und Enttäuschung dienen konnte. Folter nicht. Man konnte nicht einfach so jemanden quälen. Folter war eine ganz persönliche, geradezu intime Handlung, die besondere Aufmerksamkeit erforderte und mit der man dem Objekt der Folter Wertschätzung und Anerkennung bekundete. Primo Ramondi hatte Folter nämlich stets als einen extremen Akt der Liebe gesehen, den man in entsprechender Gesellschaft vollzog. Und Liebe forderte nur eines: Sie wollte nicht unter Wert verkauft werden. Und daher konnte man nicht einfach irgendjemanden foltern.
    Aus diesem Grund nahm er Prostituierte.
    Weil er sie mehr als jedes andere Wesen liebte. Und da dies so war, folterte er sie, aber tötete sie nicht, da er instinktiv wusste, dass er dann von ihrem Fleisch essen würde. Zu dieser Überzeugung war er gelangt, weil er sich schon einmal, neun Monate im Fruchtwasser, von einer Frau genährt hatte.
    Ehe er geboren wurde, um all dieses Leid zu ertragen.
    Reglos auf seinem ungemachten Bett, mit dieser Vogelfeder neben seinen Füßen, fühlte sich Primo Ramondi wieder unaufhaltsam in die Vergangenheit zurückversetzt. Während die Dunkelheit hereinbrach, verlor sich sein Verstand in vergessenen, begrabenen Labyrinthen, die von der seelischen Erschütterung vollkommen unversehrt an die Oberfläche geholt wurden.
    Violino hatte Selbstmord begangen, als er bemerkte, dass er alt wurde. Als er begriff, dass er genauso wie seine Opfer werden würde. Dann hatte er seinen eigenen Stuhlgang über einem Gefäß verrichtet, es mit Formalin aufgefüllt, mit einem entsprechenden Etikett versehen und sich dann vergiftet. Der Tod eines Künstlers.
    Primo dachte an den Lieferwagen, das Einzige aus Violinos Erbe, was er behalten hatte. Er dachte an die Wäscherei und an das Haus, die er verkauft hatte, damit er ein Leben ohne Arbeit führen konnte. Hartnäckig klammerte er sich an seine Erinnerungen und versuchte durch sie einen Rückweg in die Wirklichkeit zu finden.
    Aber es war vergeblich. Etwas in seinem Inneren war zerbrochen.
    Das hatte vor wenigen Tagen begonnen, als dieser Polizist ihn zusammengeschlagen hatte. Primo hatte ihn angezeigt. Sein Rechtsanwalt hatte ihn informiert, dass man den Mann vom Dienst suspendiert hatte. Aber etwas in seinem Inneren war zerbrochen. Er spürte nicht mehr die Energie unter seiner haarlosen Haut strömen.
    Bis zu diesem Morgen war er nicht einmal aufgestanden.
    Während die dichte Dunkelheit der Nacht sein Zimmer überflutete, weinte er. Wie diese dummen Huren, die ihn ärgerten. Die ihn dazu zwangen, sie zu bestrafen, damit sie damit aufhörten. Primo Ramondi durfte nicht weinen. Er wollte es nicht. Doch die Tränen flossen unaufhörlich.
    Hin- und hergerissen zwischen Angst und Wut sprang er vom Bett auf. Doch es war keine Angst vor etwas Realem, Gegenwärtigem, sondern vor etwas, das er in der Vergangenheit durchlitten und dort verloren hatte. Und nun hatte er es wiedergefunden, weil dieser Polizist etwas in ihm zerbrochen hatte. Genau wie sein Vater. Weil die Augen dieses Polizisten ihn nicht

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