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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Hütte nachlaufen konnte. Oder ihn schlagen und einsperren. Damit er ihn nicht mehr bestrafen konnte. Damit er ihn nicht einholen und verprügeln konnte.
    Als Primo Ramondi die Taschenlampe auf das Gesicht des Mannes am Boden richtete, sah er plötzlich, wie sein Vater den Mund öffnete und etwas sagte. »Du bist so schwach wie eine Schwuchtel. Das hat mir der Junge erzählt«, sagte er. Primo ließ das Messer fallen und legte ihm eine Hand auf den Mund. »Du bist so schwach wie eine Schwuchtel. Das hat mir der Junge erzählt«, sagte jetzt der Polizist.
    »Nein!«, brüllte Primo Ramondi auf. »Sei still! Das ist eine Lüge!«, und er drückte die Hand auf den Mund des Vaters. Auf den Mund des Polizisten.
    Doch die Worte schlüpften zwischen seinen Fingern hindurch und entkamen in die Dunkelheit. Er blickte hoch. Die ganze Stadt stand rings um den Gully und schrie. Einige erzählten seine Geschichte, andere lachten. Oder versuchten, durch das Metallgitter zu ihm zu gelangen. Finger zerrten zuhauf an dem Gully und würden ihn bald herausgerissen haben. Man würde ihn fangen, ihn quälen und ihn zwingen, seine wahre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte eines schwachen Jungen.
    Primo nahm wieder das Messer in die Hand. Er wusste, was er tun musste. Jetzt wusste er es. Er steckte die Klinge zwischen die Lippen seines Vaters und schnitt ihm die Mundwinkel ein, schlitzte die Wange fast bis zum Ohr, bis zum Ansatz des Kiefers auf. Dann drehte er das Messer und zerschnitt die andere Wange, die des Polizisten.
    Die Stadt dort über ihm zitterte und schrie. Auch die da oben wussten, was er tat. Jetzt war es an ihnen, Angst zu haben.
    Primo legte das Messer weg und riss den neuen großen Mund auf, den er geöffnet hatte. Er steckte eine Hand in den Hals seines Vaters, drang gewaltsam in diesen dunklen Tunnel hinter den Zähnen ein, und als er sie zwischen den Fingern spürte, umklammerte er sie fest, drehte das Handgelenk und riss sie heraus.
    Dann zeigte er sie der Menge auf der anderen Seite des Gullys, präsentierte sie in der geschlossenen Faust wie eine Trophäe. Zwischen Fleischfetzen, Teilen der Luftröhre und faserigen Stimmbändern zeigte er sie der Stadt. Die Menge verstummte. Einige fingen an zu wimmern, während Primo in so heftiges Lachen ausbrach, dass es ihn richtiggehend durchschüttelte. Und alle hielten den Atem an, denn nun wussten sie, dass sie es niemals mehr erfahren würden.
    Er leuchtete sie mit der Taschenlampe an, damit die Menge sie besser sehen konnte. Seine Geschichte – die Geschichte, die sein Vater erzählte, die Geschichte, die der Polizist wissen wollte, die Geschichte, die er selbst in den Augen des Jungen gelesen hatte – lag jetzt in seinen Händen, hier mitten in diesem blutenden Fleisch.
    Demonstrativ führte Primo die Faust zu seinem Mund und begann zu essen. Die Knorpel knackten wie der Panzer der Kakerlake. Wie der Kopf der Taube. Er kaute so lange, bis er den blutigen Brei hinunterschlucken konnte.
    Jetzt befand sich die Wahrheit wieder in ihm, war in seinem Inneren verschlossen.
    Primo sah, wie die Stadt von dem Gully zurückwich. Sie hatten verloren. Und stoben auseinander wie Nebelgeister, die vom Windhauch des Schirokko vertrieben wurden.
    Primo lachte. Er hatte seinen neuen Weg gefunden. Er würde aus der Finsternis wiederauferstehen. Um Sauberkeit und Ordnung zu schaffen. Um die letzte Wahrheit zu verschlingen. Und die letzte Lüge.
    Er wusste, wo diese Geister der Stadt sich aufhielten. Dort, wo auch er bald hingehen würde. Vorher musste er nur noch eines tun.
    Nur ein Mensch kannte jetzt die Wahrheit. Jemand, der damals jung gewesen war.
    Primo lachte und kämpfte gegen den Brechreiz.
    Die Wahrheit wehrte sich gegen dieses Mahl.
    Aber er war nicht schwach. Jetzt nicht mehr.

XIV
    Amaldi war lange regungslos vor dem Büro des Leiters des Disziplinarausschusses stehen geblieben, ohne sich dazu durchringen zu können, die Klinke zu drücken. Von drinnen waren mehrere Stimmen zu hören. Das verwirrte ihn.
    Inzwischen hatten sie das Opfer identifiziert. Es war ein Zahnarzt, der Zahnarzt von Primo Ramondi. Der Zahnarzt, der ihm vier seiner Schneidezähne so spitz zurechtgefeilt hatte, dass sie wie zusätzliche Eckzähne wirkten. Die offiziellen Ergebnisse der forensischen Abteilung lagen noch nicht vor, aber der Beamte, der die Abdrücke der Bissspuren an dem Opfer genommen hatte, hatte bereits gesagt, dass er acht spitze Einkerbungen gezählt hatte. Wie von acht

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