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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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ihre pubertären Träume anvertrauen konnten. Er betrat den Aufzug und drückte den Knopf für das letzte Stockwerk. Danach stieg er noch die zwei Treppen hoch, die zur Dachterrasse führten.
    Er hielt vergeblich nach Luz Ausschau.
    Wahrscheinlich musste er noch Zustellungen erledigen. An manchen Tagen schien die ganze Stadt sich Blumensträuße oder -gestecke zu schicken, was dann keinen Aufschub duldete. Aber Luz hatte sich niemals bei ihm beklagt. Wahrscheinlich weil er ihm diesen Job besorgt hatte, über jemanden, der ihm noch einen Gefallen schuldete. Das war vor etwas mehr als drei Monaten gewesen. Er wollte, dass Luz einer ehrbaren Arbeit nachging. Außerdem gefiel Palermo die Vorstellung, dass Luz inmitten von Blumen arbeitete.
    Palermo näherte sich dem Taubenschlag. Alle Vögel waren zurückgekehrt. Er betrachtete sie der Reihe nach, um das Weibchen herauszufinden, das vor wenigen Tagen so verzweifelt auf der Terrasse herumgeirrt war und nach seinem Jungen gesucht hatte. Er erkannte es nicht wieder. Die Augen der Tauben waren wieder völlig ausdruckslos und gläsern. Ein Vogel sah wie der andere aus. Er wusste nicht, wie Luz sie auseinanderhalten konnte. Aber Luz verstand sie. Vor allem liebte er sie. Und vielleicht war das die beste Erklärung.
    Palermo ging zur Brüstung und schaute nach unten.
    Seid ihr dort unten, um junges Fleisch zu beschnüffeln?, dachte er.
    Man konnte sie nicht aufhalten. Ratten.
    Er sah auf und ließ den Blick unruhig über das Dächermeer gleiten. Von hier oben unterschieden sich die reichen Viertel nicht allzu sehr von denen der armen Leute. Die Altstadt lag nicht so fern, selbst das Meer schien näher gerückt zu sein.
    Aber das war Luz’ Sicht, nicht Palermos.
    Palermo lebte in einer farblosen Welt ohne Ausblick auf irgendetwas. Ohne Licht. Die Häuser, die er gerade von oben betrachtete – aus der Vogelperspektive lauter gleiche glatte Flächen –, waren in seiner Welt hohe, verschachtelte Wände eines Labyrinths, in dem er sich verloren hatte, die unüberwindlichen Mauern des Gefängnisses, in das er sich selbst eingeschlossen hatte. Die Bürgersteige, über die er lief, bildeten die Decken seiner eigenen Hölle unter dieser Stadt, die so krank war wie er selbst.
    Wenn Palermo neben Luz stand, gelang es ihm ab und an, die Welt mit seinen Augen zu sehen und sich für ihn zu freuen. Und diese kurzen Augenblicke, die nur Luz ihm schenken konnte, indem er ihn bei der Hand nahm und ihm das Gefühl vermittelte, fliegen zu können, vertieften seine Zuneigung noch.
    Aber das waren nur kurze Momente.
    Palermo wandte sich wieder dem Taubenschlag zu.
    Dann nahm die Last, die er mit sich herumschleppte, ihn wieder in Beschlag und er verwandelte sich erneut in diesen Fremden, der die Welt aus Versehen von oben betrachtete.
    Ein fetter Täuberich mit glänzenden Federn und geschwellter Brust hinkte schwankend wie ein Betrunkener rund um die Aluminiumschale mit Futter. Als Palermo sich dem Gitter des Taubenschlages näherte, bemerkte er, dass dem Vogel zwei Krallen an einem Fuß fehlten. Die Wunden waren schmutzig und relativ frisch, sie hatten sich entzündet. Palermo ging in den Taubenschlag und streckte die Hand nach dem Vogel aus. Der drehte sich jedoch um und suchte verängstigt hin- und herlaufend nach einem Fluchtweg. Palermo zog seine Hand zurück und verließ den Verschlag. Nun nahm der Täuberich seine schwankenden Runden um den Futternapf wieder auf.
    Sie vertrauten nur Luz. Wie er selbst. Absolut blind.
    Palermo nahm Stift und Notizbuch aus einer Manteltasche und schrieb eine kurze Nachricht wegen der verletzten Taube für Luz. Dann faltete er das Blatt und steckte es in das Gitter.
    Er trug den Haftbefehl für Primo Ramondi bei sich im Notizbuch. Aber Primo Ramondi war nicht in seiner Wohnung gewesen. Sie hatten in seiner Straße eine Streife postiert und über Funk den Fahndungsbefehl herausgegeben. Sie würden ihn schon kriegen.
    Er würde ihn zu fassen kriegen, mit seinen eigenen Händen.
    Palermo steckte das Notizbuch wieder in die Manteltasche und ging nach unten auf die Straße, wo er ein Taxi anhielt und als Adresse eine heruntergekommene Gasse in der Altstadt angab. Während der Wagen durch den Schlamm dieser chaotischen Stadt pflügte, schloss er die Augen, lehnte den Kopf nach hinten und überließ sich in Gedanken Bildern von Luz’ engelhaftem Gesicht.
    Sie hatten niemals Sex miteinander gehabt. Und das würde auch niemals geschehen.
    Das Auto ließ die Bilder

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