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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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mit sich herumtrug, trieb sie ihm in die Augen – entfernte Verwandte dieses ersten übermächtigen Tränenstroms, der ihn dazu gezwungen hatte, aufzugeben und zu fliehen. Nun flossen sie langsam, aber unaufhörlich, schwer, erfüllt von Albträumen und Schmerzen. Immer, wenn er vor Müdigkeit überwältigt seine Lider schloss, tauchten schreckliche Bilder aus der Vergangenheit vor ihm auf und regten diesen salzigen Tränenfluss an, der ihn auslaugte, aushöhlte, austrocknete. Und diese Tränen liefen ihm über die Wangen, durchnässten seine zerknitterte Kleidung, rannen über seine Hände, die versuchten sie aufzuhalten, über seine Arme, von wo sie herabtropften und sich mit den Ausscheidungen der Stadt vereinigten und zu schmutzigen, übelriechenden Rinnsalen wurden, die irgendwo endeten und diese Erde genau wie seine Seele vergifteten. Seine Seele, die nun verloren war.
    Während Primo Ramondi diesem tödlichen Fluss der Erinnerungen zum Ursprung hin folgte, war er in die Vergangenheit zurückgekehrt, und jetzt fand er nicht mehr heraus. Wusste nicht mehr, wer er war und wo er sich jetzt befand. Wusste ab und zu, dass er ein Kind war. Wusste, dass er ein streunender Hund war, den man mit Steinwürfen verjagte. Wusste, dass er auf einer Insel der Glückseligkeit gelandet war, wo es nach frisch gewaschener Bettwäsche duftete. Aber nun konnte er den Geruch nach diesem Waschmittel für den gewerblichen Gebrauch nicht mehr einsaugen, den der Dampf der Heißmangel aus der Wäsche presste. Er sah sich nackt mit seinem kleinen Penis, der taub gegen jede Empfindung zitternd in der Luft stand, auf der Suche nach einem Gefühl von Männlichkeit.
    Und er sah den Jungen, tot. In diesem Waschraum, der sich rot färbte.
    Und die zwei Frauen.
    Er war ihnen auch noch hinterhergelaufen, nachdem er zu Violino gezogen war. Hatte sie beobachtet in der Hoffnung, er könne in ihren Blicken ein Anzeichen von Trauer über sein Verschwinden entdecken. Er hatte ihre Spuren verfolgt, um sein Bild in ihren Tränen wiederzufinden.
    Er schreckte auf, als ein Windstoß heulend durch den Gully fuhr. Der Wind war schmutzig und feucht und brachte die Pest der Vergangenheit mit. Irgendwo in der Dunkelheit klapperte ein Stück Blech.
    Nein, er würde den Kampf gegen diesen Polizisten nicht verlieren. Der würde ihn nie zu fassen bekommen. Doch zuerst musste er innerlich gesunden. Er war geflohen und hatte sich in dieses Labyrinth verkrochen, im Schutz der äußersten Peripherie. Den Eingang zur Kanalisation kannte er seit seiner Kindheit, und es war ganz leicht gewesen, das Schloss davor aufzubrechen. Dann war er in den dunklen Bauch der Stadt eingetaucht. Den Bauch der Mutter. Ein schmutziger Ort, an dem er all das gelernt hatte, was er vergessen wollte.
    Ramondi schaltete die Taschenlampe aus und überließ der Dunkelheit die Herrschaft über sein Versteck.
    In der Hütte, die einmal auch sein Zuhause gewesen war, wohnten zwei Huren.
    Er musste wieder bei der Finsternis beginnen.
    Da waren die beiden Frauen, denen er auf ihrem Weg nach Hause und zur Arbeit folgte.
    Er musste noch einmal ganz von vorn beginnen, wenn er wirklich wollte, dass das, was in ihm zerbrochen war, wieder in Ordnung kam.
    Wenn die Frauen spät in der Nacht oder früh am Morgen nach Hause kamen, belauschte er sie. Sie lachten und rissen untereinander Witze, gaben derbe Kommentare über ihre Arbeit ab, beschrieben einander zynisch, wie schrecklich einer gestunken hatte, was für Missbildungen, körperliche und geistige Schwächen ihnen untergekommen waren. So distanziert wie Gerichtsmediziner, Polizisten oder Totengräber. Sie lachten mit ihren Mündern, denen keine Abscheulichkeit fremd war, doch wer Augen hatte, um zu sehen, konnte in ihren Blicken einen Schimmer von Traurigkeit wahrnehmen, der sich wie ein Tränenschleier über ihre Pupillen gelegt hatte.
    Und dann gab sich Primo Ramondi der Illusion hin, dass sie seinetwegen weinten.
    Nicht alle Huren waren so. Aber diese beiden, deren Spur er verfolgte, schon. Und sie zogen ihn an, weil sie die schwächsten von ihnen waren. Die ersten.
    Dann war die Mutter gestorben. Und nur noch die jüngere war übrig geblieben. Er würde sie aufsuchen. Schon bald. Sobald er wieder gesund war.
    Primo Ramondi hörte ein Geräusch. Sofort war er in Alarmbereitschaft. Er tauchte aus seinen Erinnerungen auf. Seine Hand griff nach dem Klappmesser, und er ließ die Klinge hervorschnellen. In die andere Hand nahm er die Taschenlampe, ohne

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