Inmitten der Unendlichkeit
Neugierde.
Menschen hatten keine Vorstellung von der Komplexität eines morthanischen Bewußtseins. Die Tatsache, daß Brik keine Möglichkeit sah, sie zu erleuchten, ohne daß sie dabei selbst zu Morthanern würden, frustrierte ihn nicht sonderlich, obwohl die Barriere unpräziser Kommunikation, die die geistige Lücke zwischen Menschen und Morthanern bedeutete, ihn mehr als einmal heftig verärgerte. Und so spürte er eine zunehmende Verantwortung, die fehlende Bewußtheit in seinen menschlichen Kollegen durch erhöhte eigene Vorsicht wettzumachen.
Nackt und endlich auch entspannt begab sich der gewaltige Morthaner in eine meditative Körperhaltung und wartete. Als er bereit war für den nächsten Schritt, flüsterte er ein weiteres Kommando, und die holographischen Schirme erwachten zum Leben. Sie zeigten Bilder von vergangenem Entsetzen.
Brik saß alleine in der Dunkelheit und war auf drei Seiten von den Hologrammen eines toten Morthaners umgeben. Eines Assassinen namens Esker Cinnabar.
Genau wie an beinahe jedem Tag in den letzten fünf Wochen, seitdem die Sternenwolf ihre letzte Mission beendet hatte, studierte er die Aufnahmen. Es gab so viel, das er aus ihnen lernen konnte.
Im allgemeinen dachte Brik nicht viel über die von Menschen entwickelten Methoden nach, mit denen sie ihre Leistungsfähigkeit maßen und untereinander verglichen – mit ein paar Ausnahmen. Eine davon war der Test nach Skotak auf Viabilität, was in etwa Überlebensfähigkeit bedeutete. Er maß mit einer in Briks Augen bewundernswerten Präzision, wie schwer ein lebendiger Organismus zu töten war. (Natürlich hatten die Menschen nicht erkannt, daß man den Test so anwenden konnte. Sie dachten, seine Aufgabe wäre es, Entscheidungen über die Heilung von Verwundeten zu treffen. Aber Brik sah keinen Sinn darin, sich vom begrenzten Vorstellungsvermögen anderer einschränken zu lassen.) Ein gutes Ergebnis für einen Menschen hätte im Bereich von siebenundsiebzig bis achtzig gelegen; ein außergewöhnlich begabter Mensch hätte vielleicht sogar neunzig erreichen können. Esker Cinnabar hatte, als er noch lebte, einen Skotak-Viabilitätswert von einhundertzweiunddreißig erreicht – ohne seine biomechanischen Verstärkungen. Unter Einbeziehung dieser Verstärkungen – biotechnischer Implantate, zusätzlicher optischer Nervensysteme und einem halben Dutzend verschiedener Apparate, die ihn vor den allgemein gebräuchlichsten Formen von Partikelstrahl- und Projektilwaffen schützten – war Cinnabars Skotak-Viabilitätswert auf beinahe dreihundertneunzig hinaufgeschossen. Brik hätte niemals zugelassen, daß jemand anderes den Skotaktest an ihm durchführte; er würde damit wertvolle Informationen über sich selbst hergeben, die eines Tages sogar zu seinem Tod führen mochten. (Immerhin hatte dieses Wissen auch Cinnabars Tod mitverursacht.) Aber Brik hatte den Test in der privaten Abgeschiedenheit seines Quartiers an sich selbst durchgeführt. Und die Resultate waren – milde ausgedrückt – interessant.
Esker Cinnabar gehörte zweifelsohne zur Elite der Morthan-Solidarität. Er hatte die allerbeste Ausbildung in den Kampfkünsten erhalten, die man sich nur denken konnte. Sogar ohne jegliche biomechanische Aufrüstung hatte er nachweislich den Rang eines Berserkers besessen. Die Solidarität verwandte die nicht unbeträchtlichen Ressourcen, die zur Ausbildung eines Assassinen notwendig waren, nur an ihre besten Leute.
Esker Cinnabars Viabilitätswert betrug – ohne Aufrüstungen – einhundertzweiunddreißig.
Briks Wert betrug einhundertsechsunddreißig.
Aber Esker Cinnabar hatte eine bessere Ausbildung erfahren. Brik wußte es nur zu gut: Die größten Kämpfer des Universums waren die Lehrer Cinnabars gewesen. Brik hatte nur seine Väter gehabt. Und später nur noch sich selbst. In der gesamten Allianz gab es niemanden, der genug Kompetenz besessen hätte, Brik die Dinge zu lehren, die er nun wissen mußte. Die Fachleute gehörten alle zur Solidarität. Zu seinen Feinden.
Und so saß Brik in der Dunkelheit und studierte die stundenlangen Aufzeichnungen, die die Kameras von dem morthanischen Fachmann Esker Cinnabar angefertigt hatten. Er studierte die Bewegungen Cinnabars. Er studierte, wie Cinnabar sprach. Er beobachtete, wie Cinnabar seiner Wut nachgab, und lernte daraus. Er beobachtete, wie der andere drohte und bluffte, wie er tötete, und wie er schließlich starb.
Immer und immer wieder. Und Brik lernte
Weitere Kostenlose Bücher