Innenhafen
aus meinem Rucksack gekramt und ihm geholfen, die Schweinerei auf dem Tisch zu beseitigen.
Zehn Monate. Während dieser Büroehe hatte ich sowohl mein neues Umfeld als auch Heiko kennen- und auch schätzen gelernt. Ich erfuhr, dass der Kollege, auf dessen Stuhl ich jetzt saß, vier Monate zuvor an einem Herzinfarkt gestorben war und dass sich eine Schnellschuss-Einstellung als ziemliche Niete erwiesen hatte, weshalb sie noch in der Probezeit wieder gehen musste. Heiko vertraute mir an, dass der Chef gerne mal einen über den Durst trank und dass es um das Klima in der Nachbarabteilung nicht besonders gut bestellt war, weil zwei Köche – damit meinte er zwei Vorgesetzte – bekanntlich den Brei verdarben. Ich wusste, dass seine Frau Angelika hieß und dass er sie Angie und manchmal auch Engelchen nannte. Ich hatte Fotos von der Geburt seiner Jüngsten bewundert, die jetzt gerade mal dreizehn Monate alt war, und Bilder vom letzten Urlaub vor der Geburt. Heiko hatte mir erzählt, dass er ein Häuschen in Duisburg-Wedau nahe der Sechsseenplatte besaß, das noch nicht abbezahlt war, dass er für sein Leben gerne grillte und dem Bier mehr zusprach, als gut für ihn war. Meinte zumindest Engelchen. Ich war darüber informiert, dass seine Frau ernsthaft versuchte, ihm ein paar Kilo seines so sorgsam gehegten Bauches abzutrotzen, weil sie Ernährungswissenschaftlerin war und um seine Gesundheit bangte. Ich war Nutznießerin dieser Versuche, denn die Rohkost, die sie ihm in Tupperdöschen liebevoll aufbereitet mitgab, landete in schönster Regelmäßigkeit bei mir. Heiko vertraute mir an, dass Fußball sein Leben war, allerdings eher aus der sitzenden Position, und dass es abends sein Job war, den Müll rauszubringen und den Hund auszuführen, der Harlekin hieß und ein Mischling war. Das alles ergab sich von selbst, wenn man sich Tag für Tag gegenübersaß, und vermutlich konnte Heiko eine ähnlich lange Liste der Dinge aufzählen, die mich neben dem Berufsleben beschäftigten.
Was ich an Heiko jedoch fürchten gelernt hatte, das waren seine mittäglichen Telefonate, bei denen in stereotyper Weise immer gleiche Gespräche stattfanden, die immer gleiche Themen abhandelten, die man gut und gerne auch ein paar Stunden später beim gemeinsamen Abendessen hätte bekakeln können. Es ging meist ums Mittagessen (angenommene Frage: Was gab es in der Kantine? Antwort: Fischpfanne und Salat; angenommene Frage: Und? Hat’s geschmeckt? Antwort: Doch, doch, ganz gut; angenommene Frage: Aber die Rohkost hast du doch auch gegessen? Antwort: Ja, Engelchen, die Möhren waren heute ganz besonders aromatisch), um die Befindlichkeit der Kleinen (Was, Blähungen? Ach je, das arme Würmchen), die schulischen Leistungen des Großen (Ach nein, das ist ja großartig, wirklich, das freut mich) und die Planung der Wochenenden (Sollen wir nicht mit Jacky und Lea zusammen grillen, das wäre doch auch nett für die Kinder). Die Anrufe endeten meistens mit Liebesbeteuerungen, wenigstens jedoch mit Küsschen, die schmatzend über die Leitung ausgetauscht wurden. Ja, diese Anrufe fürchtete ich, und immer wieder fragte ich mich, warum es so unglaublich wichtig war, sich täglich auf diese Art und Weise zu versichern, dass sich die Zuneigung, die man füreinander empfand, nicht plötzlich innerhalb der letzten vier Stunden wie von Zauberhand in Luft aufgelöst hatte. Meine Zuneigung würde sich vermutlich auf leisen Sohlen klammheimlich davonstehlen, würde mir Max täglich ein solches Gespräch aufs Auge drücken.
Ich kannte meinen Kollegen also mittlerweile recht gut, denn ich nahm zwangsläufig teil an seinem Leben, häufig mehr, als mir lieb war. Er machte mehr Witze, als ich eigentlich verkraften konnte, war darüber hinaus aber gutmütig, freundlich und kein Konkurrenzgeier. Ich schätzte seine fachliche Kompetenz, seine kollegiale Art und die ruhige, aber dennoch sehr präzise Weise, mit der er mich an meine neue Aufgabenstellung herangeführt hatte. Ich hätte es weitaus schlechter treffen können mit meiner Büroehe.
Aber während ich nach meinem zweiwöchigen und mehr als ereignisreichen Urlaub erstmalig wieder zur Arbeit fuhr und mir dabei überlegte, wie ich es schaffen könnte, Heiko auf mein Anliegen anzusetzen, merkte ich, dass ich ganz entscheidende Dinge über meinen Kollegen doch nicht wusste. Ich konnte ihn noch lange nicht richtig einschätzen.
»Hallo, Heiko«, grüßte ich, als ich ins Büro trat.
»Toni, hallo! Ist dein Urlaub
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