Innere Werte
Treppenhaus hörten die beiden Musik und folgten der Beschilderung in den ersten Stock. Leise traten sie ein. Ein Paar tanzte in aufrechter, gespannter Haltung am Spiegel entlang durch den Raum.
»Tango«, flüsterte Dieter seinem Kollegen zu.
»Wer hätte das gedacht?«
Mit großem Ernst waren die Tänzer bei der Sache. So als würden sie, geführt von der melancholischen Musik, ihrer Sehnsucht Ausdruck verleihen. Es war ein ständiges Spiel mit Nähe und Distanz.
»George Bernhard Shaw hat mal gesagt, der Tango ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens.«
»Geflügelte Worte.« Michael lächelte vor sich hin und legte den Kopf schief. »Das gefällt mir richtig gut.«
»Der Tango«, hörten sie eine Stimme hinter sich sagen, »ist mein Lieblingstanz.« Karola Wellner war zu ihnen getreten. Sie trug ein rotes Kleid mit diskreten Applikationen und einem unsagbar tiefen Rückenausschnitt. Der seidig glänzende Stoff verlieh dem Kleid eine exklusive Eleganz und saß wie eine zweite Haut. Michaels Blick fiel auf ihre roten Tanzschuhe aus Wildleder. Sie hatten Absätze von mindestens zehn Zentimetern Höhe, schätzte er und fragte sich, wie man auf diesen Dingern laufen, geschweige denn tanzen konnte.
»Tanzen die Herren von der Polizei Tango?«
»Eher weniger«, gestand Michael.
»Ein Jammer. Der Tango ist wie das Leben, wie ein Motto«, schwärmte sie. »Es gibt keine festgelegten Schrittabfolgen. Es ist ein Tanz, der von der Improvisation lebt.« Sie nahm Michael in die Tanzhaltung. »Der Mann übernimmt die Führung, aber die Frau entscheidet, ob sie den vorgeschlagenen Schritt machen möchte.«
»Wirklich wie im Leben«, bestätigte Dieter und dachte schmunzelnd an seine Frau.
Michael befreite sich aus Karolas Armen. »Können wir irgendwo ungestört sprechen?«
Sie ging voraus in einen Nebenraum, wo sie sich in bequeme weiße Cocktailsessel setzten. Karola schlug ihre langen Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück.
»Ich hatte vergessen, Sie zu fragen, wo Sie am Dienstag um siebzehn Uhr und danach waren.«
»Das ist der Todeszeitpunkt meiner Schwester, nehme ich an? Und Sie wollen das wissen, weil Sie mich verdächtigen?«
»Genau.« Wer so direkt fragte, sollte auch eine direkte Antwort bekommen, fand Michael.
»Also, ich war hier in der Schule. Ich hatte Unterricht. Dafür gibt es mindestens zehn Zeugen, die ich Ihnen gerne nennen kann.«
»Das wäre ganz ausgezeichnet.« Michael wartete, bis sie sich erhob und die Namen ihrer Tanzschüler aufschrieb.
»Und warum verdächtigen Sie mich? Haben Sie mit meiner Mutter über die Machenschaften meiner Schwester gesprochen?«
»Sie können gut kombinieren.«
»Ich bin Tanzlehrerin.«
Und schlagfertig noch dazu, ergänzte Dieter in Gedanken und fragte: »Wo waren Sie in der darauffolgenden Nacht?«
»Im Bett.«
»Haben Sie dafür auch zehn Zeugen?«
»Leider nein.« Sie lächelte lammfromm.
»Lieben Sie Steffen Wellner noch?«, fragte Michael plötzlich.
»Nein!«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.
»Wem haben Sie die Schuld an der Trennung von ihm gegeben?«
»Na, wem wohl? Meine Schwester hat ihn um den Finger gewickelt und verführt, obwohl sie wusste, dass ich ihn heiraten wollte. Nicht gerade die feine englische Art.«
»Das kann ich gut verstehen. Sie müssen sie ja gehasst haben«, Michaels Stimme triefte vor Mitgefühl, so dass Dieter unbemerkt die Augen verdrehte.
»Allerdings!«
»Dann war es sicher eine Genugtuung, dass die Ehe Ihre Schwester nicht sehr glücklich war?«
»Gewissermaßen. Aber es hat mich auch betroffen gemacht und mir gezeigt, dass ich die Richtige gewesen wäre.«
»Aber dadurch bestand doch die Chance, Steffen wiederzubekommen?«
Sie schwieg und erinnerte sich an etliche missglückte Versuche.
»Und jetzt besteht die Chance erst recht. Ihre Schwester kommt Ihnen nie wieder in die Quere. Sie sind sicher nicht sehr unglücklich über ihren Tod?«
»Sie hat ihre Strafe bekommen, wenn man so will.«
»Das Strafmaß war ziemlich hoch, finden Sie nicht?«
»Ihr Vergehen war nicht minder schlimm.«
»Richtig! Sie hat ja Ihr Leben zerstört.« Aus seinem Mitleid wurde Zynismus.
»Sie sagen das mit einem Sarkasmus, der völlig unangebracht ist«, wies ihn Karola auch sofort zurecht.
»Frau Wellner, Sie müssten sich mal hören. Sie sagen, dass Ihre Schwester den Tod verdient hat. Glauben Sie, das zu beurteilen steht Ihnen zu? Sind Sie Richterin über Leben und Tod,
Weitere Kostenlose Bücher