Innere Werte
Martin schloss die Augen, fuhr sich durch die Haare und versuchte die schrecklichen Bilder, die nun wieder vor ihm standen, durch eine angenehme Vorstellung zu ersetzen. Er wollte an Karla denken, an das Gefühl, das er empfand, wenn sie ihn in den Arm nahm und küsste, aber es gelang ihm nicht wirklich. Er konnte einfach nicht abschalten, nicht auf Knopfdruck. Flüchtig fragte er sich, ob sich das durch Meditation erlernen ließe. Martin konzentrierte sich wieder auf den Bericht.
Offensichtlich hatte die Spurensicherung im Gerinne vor dem Rechen ein größeres Stück des Torsos gefunden und Dr. Stieber hatte möglicherweise etwas Interessantes daran entdeckt. An der linken Flanke des Toten steckte ein drei Zentimeter langer, blauer Faden in der Haut, an dem man einen winzigen Knoten erkennen konnte. Weitere solcher Fäden hatten sie im gepressten Rechengut gefunden. Stieber hatte die Fäden zur Untersuchung ins Labor geschickt.
Martin fragte sich, was das zu bedeuteten hatte. Ob es überhaupt etwas bedeutete? Woher stammten diese Fäden? Vom Toten, oder konnten sie durch anderes Rechengut an den Körper gelangt sein?
Als er den Bericht weiter durchging, las er von Dr. Stiebers Vermutung, dass diese Fäden zum Verschließen einer Wunde beim Opfer gedient haben könnten. Die Laboruntersuchung würde darüber mit Sicherheit Aufschluss geben.
Darüber hinaus war ein Stück des rechten Armes samt Hand im Rechen sichergestellt worden. Sofort schob sich das Bild der Hand, die Martin im Wasser hatte schwimmen sehen, in seine Gedanken. Der reinste Horrorfilm! Er mahnte sich selbst, den Bericht schnell zu Ende zu lesen.
Aus der Untersuchung der gefundenen Extremität schloss der Rechtsmediziner, dass Peter Bielmann ein sportlicher, durchtrainierter Mann gewesen sein musste. Seine Muskeln waren entsprechend ausgeprägt. Auch die Hand war kräftig und ließ einen Handwerker vermuten. Wie gut, dachte Martin, dass Werner Hagedorn so schnell reagiert und den Grobrechen samt Greifer ausgeschaltet hatte.
Aufgrund des Zustandes der gefundenen Körperteile wurde der Todeszeitpunkt auf Freitag zwischen elf und fünfzehn Uhr festgelegt. Alles in allem gab es im Obduktionsbericht keine weiteren Überraschungen, ausgenommen natürlich die Hüftprothese. Noch mehr solcher genialen Funde wären wahrscheinlich auch zu viel des Guten.
Martin steckte den Bericht in seine Aktentasche und schob sie unter den Tisch. Normalerweise nahm er sich keine Arbeit mit nach Hause. Diese Dinge ließ er gerne vor der Tür, sie sollten nicht Bestandteile seines Privatlebens sein. Auch wenn sich das nicht immer vermeiden ließ, so war sein Zuhause mit Karla für ihn doch ein Ort der Zuflucht. Hier hieß es abschalten, entspannen, wegkommen vom beruflichen Alltag. Aber heute hatte er eine Ausnahme gemacht, die ihm allerdings nicht gut bekam. Er fühlte sich elend und spürte einen Ansatz von Kopfschmerzen. Frische Luft wäre jetzt nicht schlecht. Martin trat ans Fenster und öffnete es. Draußen wehte ein eisiger Wind, der hoffentlich auch seine Gedanken erfrischen würde. Ein kräftiger Luftzug schlug die Tür seines Arbeitszimmers zu. Gerade als er das Fenster schloss, kam Karla herein.
»Na, der Obduktionsbericht scheint hier ja für ganz schönen Wirbel zu sorgen.« Spitzbübisch blickte sie Martin an. Ihr Lächeln flog ihm entgegen. Sofort entspannte er sich und ging ebenfalls lächelnd auf sie zu.
Karla war seine dritte Ehefrau. Und seit sie vor vier Jahren geheiratet hatten, war kein Tag vergangen, an dem er sich nicht gefreut hätte, sie zu sehen und in den Arm zu nehmen. Ihre Ehe war ausgesprochen harmonisch, so dass er zu Hause stets Kraft schöpfen konnte. Natürlich waren sie nicht immer einer Meinung, aber sie sprachen über ihre Wünsche und Gedanken, so dass nie etwas ungeklärt zwischen ihnen stand. Für dieses Glück hatte Martin seinen Preis gezahlt. Zunächst zwei gescheiterte Ehen und jahrelanges Leiden bis man sich endlich, viel zu spät, entschlossen hatte, sich zu trennen. Das hatte Martin geprägt. Er wusste von Anfang an, dass die Ehe mit Karla ganz anders laufen würde, zum einen, weil er nun sein Bestmöglichstes gab und zum anderen, weil er spürte, dass Karla die Frau seines Lebens war.
Vor drei Jahren hatten sie sich im Neubaugebiet von Taunusstein-Wehen eine Doppelhaushälfte mit Garten gekauft. Wehen gehörte zu den bevorzugten Taunussteiner Wohnlagen, was jeder nachvollziehen konnte, der die absolut ruhige Höhenlage
Weitere Kostenlose Bücher