Inquisitor: Drei Romane in Einem Band. Mit Bonusmaterial: "Die Innere Bestie" [u.a.]. Ian Watson. Mit Einer Einf. Des Autors. [Dt. Übers. Von Walter Brumm Und Christian Jentzsch].

von Rechtswegen die Erfahrung des Verlangens meiden.
    Hatte er Meh'lindi wahrhaft
begehrt? Ihre Schönheit war bizarr gewesen, allerdings nicht im Dunkeln. Ihre Tätowierungen
hatten nicht phosphoresziert. Im Dunkeln war es einfach das verschlungene
Alphabet der Gliedmaßen gewesen, das gelesen wurde, wie ein Blinder liest.
    Welche Worte hatten Meh'lindis
Gliedmaßen in der Dunkelheit gesprochen? Verlangen war etwas jenseits der
Sprache und des Verstands. Bedeutete dies im Grunde nichts anderes, als dass
Verlangen ein Zustand von Wahnsinn war? Verlangen wirkte ohne Analyse oder Erklärung.
Es funktionierte in einem Raum, der frei von Erklärungen und Logik war. In
dieser Leere konnte der mächtigste Aberglaube entstehen und die vertrauten
Parameter von Pflicht und Vernunft umstürzen. Der Verlust von Leitlinien aber
führte ins Chaos. Dem Verlangen nachgeben, hieß also, dem Chaos den Hof machen.
Aber war dies jenes Chaos, von dem gern gesagt wurde, dass es zum Entstehen
einer neuen Ordnung führte?
    Schönheit, pah! Was war bloße
Schönheit wert?
    Konnte Jaq von sich sagen, er
habe Meh'lindi geliebt? Schwerlich!
    Wie könnte er Liebe für sie
empfinden — selbst wenn sie am Leben wäre? In seinem vereitelten Verlangen,
verdichtet durch Tod, lauerten tiefes Geheimnis und Paradox ... und ein Weg zur
Erleuchtung.
    Wahrscheinlich war es reine
Phantasie, sich einzubilden, dass er selbst als Erleuchteter jemals den
legendären Ort im Wegenetz finden könnte, wo die Zeit umkehrte, um Meh'lindi in
ihrem eigenen lebendigen Körper aus der Zeit ihrer Existenz zurückzurufen. Hatten
Großharlekine nicht seit Jahrtausenden nach diesem sagenhaften Ort gesucht? Konnte
er aber akzeptieren, dass sich Meh'lindis ungestümer, feuriger Geist einfach in
dem Meer der Seelen aufgelöst hatte, als sie gestorben war? Kaum.
    Wenn er Erleuchtung fand und
Rakel in das Wegenetz führte, nahe dem Warp, umgewandelt durch Polymorphin zur
absoluten körperlichen Zwillingsschwester Meh'lindis könnte Meh'lindis Geist
dann nicht unwiderstehlich von diesem Körper angezogen werden und sich wieder in
den Besitz von Fleisch und Blut setzen?
    Geist und Körper würden
verschmelzen. Das Bewusstsein, welches Rakel binth-Katzintzkis gewesen war,
würde ausgetrieben wie ein geringerer Dämon, exorziert! Meh'lindi würde wieder
ganz und gar sie selbst sein.
    Es ist ein eigenartiges
Phänomen, dass Menschen im Allgemeinen genauso aussehen, wie ihre
Persönlichkeit suggeriert, dass sie aussehen sollten. Anders ausgedrückt: dass
die Persönlichkeit eines Menschen ab einem gewissen Alter vollkommen ihrer
Erscheinung entspricht.
    Zur Erklärung dieses Phänomens
schrieb ein Dichter in alter Zeit: »Seele ist Form und macht den Körper.«
Daraus folgte, dass, wenn ein Körper genau wie Meh'lindis w urde, ihre Seele dem Ruf folgen
musste — dem Zwang der Identität.
    Sollte sich Jaq geißeln, weil er
persönliche Sorgen und Leidenschaften beherbergte? Nicht wenn er im Dienste der
Wahrheit seine ganze Energie einsetzen musste! Also meditierte er.
    Lampen erhellten den Raum, und
Rakel wurde von ihren Fesseln befreit.
    Nackt auf den Steinfliesen
kauernd, lauschte sie mit schreckgeweiteten Augen Jaqs Erklärung dessen, was mit
ihr geschehen musste — als Alternative zu ihrem Tod durch Laserpistole. Tod war
keine Option mehr für sie, es sei denn, die Umwandlung scheiterte.
    »Die Umwandlung wird nicht
fehlschlagen!«, versprach Jaq. Er vertraute die Assassinenkarte Grimm an, der
sie ständig vor Rakels Augen halten musste, solange der quälende Prozess der
Metamorphose andauerte. »Rakel, du musst dich die ganze Zeit auf dieses Bild
konzentrieren. Ich werde dich anleiten, was die Körpertätowierungen betrifft.
Sie sind meinem Gedächtnis eidetisch eingebrannt ...« Ebenso seinem Herzen ...
    Meh'lindi war reichlich in
Schwarz tätowiert gewesen, um Narben zu verhüllen und zu verschönern. Eine Schlange
mit gefährlichen Giftzähnen hatte sich um ihr rechtes Bein gewunden. Eine
haarige Spinne hatte ihre Taille umarmt. Käfer waren über ihren Busen
gekrabbelt. Ihre Oberfläche war tätowiert — und tödlich gewesen.
    Rakel musste diese Oberfläche
vollkommen imitieren.
    Wie verhielt es sich mit den
Tiefen? Nun, Jaq war zweimal in jene Tiefen eingelassen worden, um Meh'lindi zu
reinigen und zu weihen; mit ihrer vollen Zustimmung.
    Assassinen waren trainiert,
Schmerzen zu ertragen und zu verdrängen. Rakel war untrainiert. Wenn ihre
Konzentration versagte, könnte