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INRI

INRI

Titel: INRI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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boten im Beichtstuhl ein Allheilmittel an; die Psychiater versuchten zu heilen, und in den meisten Fällen versagten sie. Aber sie versuchten es wenigstens, und er überlegte, ob das an sich nicht schon eine Tugend war.
    »Ich habe mich angesehen«, sagte er.
    Schlief sie?
    Er drehte sich herum.
    Ihre wachsamen Augen waren noch offen und sahen zum Fenster hinaus.
    »Ich habe mich angesehen«, wiederholte er. »So wie Jung es tat. ›Wie kann ich diesen Menschen helfen, wenn ich selbst fliehe und vielleicht auch an dem morbus sacer einer Neurose leide?‹ das fragte sich Jung selbst…«
    »Dieser alte Effekthascher. Dieser alte Rationalisierer seines eigenen Mystizismus. Kein Wunder, daß aus dir nie ein Psychiater wurde.«
    »Ich wäre nie ein guter geworden. Das hatte nichts mit Jung zu tun…«
    »Wirf es nicht mir vor…«
    »Ich wollte Menschen helfen. Ich fand keinen Zugang zu ihnen. Du hast mir selbst gesagt, daß du ähnlich empfindest - du hältst es für zwecklos.«
    »Nach einer harten Arbeitswoche könnte ich so etwas sagen. Gib mir noch eine Zigarette!«
    Er öffnete die Packung auf dem Nachttisch, steckte zwei Zigaretten in den Mund, zündete sie an und reichte ihr dann eine.
    Fast unbewußt nahm er wahr, wie die Spannung wuchs.
    Der Streit war sinnlos, wie immer. Aber nicht der Streit war das Wichtige: Es war einfach der Ausdruck des eigentlichen Verhältnisses. Er fragte sich, ob auch der überhaupt von Bedeutung war.
    »Du sprichst nicht die Wahrheit.« Er wußte, daß es jetzt kein Halten mehr geben würde, da das Ritual in Gang gesetzt war.
    »Ich sage die volle Wahrheit. Ich habe kein Bedürfnis, meine Arbeit aufzugeben. Sie hinzuschmeißen. Ich will keine Versagerin sein…«
    »Versagerin? Du bist noch melodramatischer als ich!«
    »Du bist zu ernst, Karl. Du müßtest ein wenig aus dir herausgehen.«
    Er höhnte: »Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich meine Arbeit aufgeben, Monica. Du eignest dich nicht besser dafür als ich.«
    Sie zuckte die Achseln und zupfte an der Decke. »Du bist ein gemeiner Hund.«
    »Ich bin nicht eifersüchtig auf dich, wenn du das meinst. Du wirst nie verstehen, wonach ich suche.«
    Ihr Lachen klang spröde. »Der moderne Mensch auf der Suche nach einer Seele, wie? Der moderne Mensch auf der Suche nach einer Krücke, würde ich sagen. Und du kannst das auffassen, wie du willst.«
    »Wir zerstören die Mythen, die die Welt in Bewegung halten.«
    »Jetzt sagst du gleich: ›Und was setzen wir an ihre Stelle?‹ Du klingst schal und dumm, Karl. Du hast noch nie etwas vernünftig betrachtet - nicht einmal dich selbst.«
    »Was soll's? Du sagst, der Mythos sei unwichtig.«
    »Die Wirklichkeit, die ihn entstehen läßt, ist wichtig.«
    »Jung wußte, daß der Mythos auch die Wirklichkeit herbeiführen kann.«
    »Was beweist, was für ein alter Trottel er war.«
    Er streckte seine Beine aus. Dabei berührte er ihre und fuhr zurück. Er kratzte sich am Kopf. Sie lag immer noch da und rauchte, aber sie lächelte jetzt.
    »Komm!« sagte sie. »Laß uns ein bißchen über Christus reden.«
    Er sagte nichts.
    Sie reichte ihm das Ende ihrer Zigarette, und er legte es in den Aschenbecher. Er schaute auf seine Uhr.
    Es war zwei Uhr morgens.
    »Warum tun wir das?« fragte er.
    »Weil wir müssen.«
    Sie schob ihre Hand unter seinen Hinterkopf und zog ihn zu ihren Brüsten heran. »Was können wir sonst tun?«
    Er begann zu weinen.
    Großmütig im Sieg, streichelte sie seinen Kopf und sprach leise auf ihn ein.
    Zehn Minuten später liebte er sie brutal.
    Zehn Minuten danach weinte er wieder.
    Betrug.
    Er betrog sich selbst und wurde so betrogen.
    »Ich möchte Menschen helfen.«
    »Du solltest dir lieber zuerst jemanden suchen, der dir hilft.«
    »Oh, Monica. Monica.«
    Wir Protestanten sind auf dem besten Wege, zu diesem Problem zu gelangen: Sollen wir die imitatio Christi so verstehen, daß wir sein Leben kopieren, gewissermaßen seine Wundmale nachäffen, oder, ihn in tieferem Sinne verstehend, unser Leben so leben, wie er das seinige in seinem ihm allein eigentümlichen So-sein gelebt hat? Das Christusleben nachahmen ist keine leichte Sache; aber es ist unsäglich viel schwieriger, das eigene Leben so zu leben, wie Christus das seine gelebt hat. Jeder würde gegen seine historische Bedingtheit verstoßen - und sie dadurch zwar erfüllen; jedoch würde er in seiner Art verkannt, verspottet, gequält und gekreuzigt… Neurose ist die Persönlichkeitsspaltung in letzter

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